Das bunte Ende
HANS-JOACHIM NEUBAUER
Kreuzberg: Bevor die Mauer fiel, war der südöstliche Ex-Arbeiterbezirk zu drei Vierteln vom Sozialismus gerahmt. Dann wurde alles anders, und die so genannte „Szene“ schickte ihre jüngeren Teile in den Osten. Kreuzberg wanderte aus dem Schlagschatten der Geschichte in ihr Abseits. War zu türkisch für die schicker gewordene Gegenwart. Erst Ende der Neunziger kehrte sich der Trend um: Der Prenzlauer Berg war touristisch, und den Bezirk Mitte verwechselten nur noch Busreisende, Sonntagsfotografen und Shopping-Taschen-Träger mit Berlin. Aber Kreuzberg kam zurück.
Welche Spuren diese und andere Geschichten in den Gesichtern und Lebensl äufen der Bewohner des Stadtteils hinterlassen hat, beweist eine bezaubernde Sammlung mit ihren Porträts (Hans W. Korfmann: Kreuzberger. 15 Porträts. Bilder von Michael Hughes. Verlag an der Spree, Berlin 2005). Hans W. Korfmann erschließt seinen Stadtteil über die Begegnung mit den Kreuzbergern. Ihre Biografien haben den Bezirk geprägt. Wir treffen auf Kazim Ismailcebi, der am Hermannplatz mit türkischen Instrumenten handelt:Sein halbes Leben hat er in Berlin verbracht, ein Kino geführt, Videos vertrieben;jetzt ist er Deutscher und glaubt an Gott: „Aber ich habe ihn hier unten noch nicht gesehen. Schade eigentlich“, sagt er: „Ich bräuchte ihn.“
Gaetano Scognamiglio hat einen Copy-Shop, und manchmal hat er seine Probleme mit den Deutschen, die so wenig lachen. Beatrice Frings fährt Rollstuhl und ärgert sich, dass die Polizei sie nie anhält, und die freundlichen Freunde Diddi und Siggi sind da, Zeynep Delibaltas von der Galerie „Wie bitte?“ auch, die der Liebe wegen kam und aus anderen Gründen blieb. Sie alle und noch viele andere erscheinen, jeder auf fünf emphatisch genauen Seiten über Hoffnung, Verzweiflung und ein paar andere Gründe, am bunten Ende von Berlin zu leben. Menschen machen Geschichte, heißt es. Wer Korfmanns „Kreuzberger“ liest, weiß, dass das Gegenteil mindestens genauso wahr ist.
© Rheinischer Merkur Nr. 28, 14.07.2005