Mai 2024 - Ausgabe 259
Strassen, Häuser, Höfe
Lausitzer Straße 11 von Michael Unfried |
Das ist noch das alte Berlin. Nicht das der 20er-Jahre, das gerade in Film und Fernsehen vermarktet wird, sondern das alte West-Berlin der Sechziger- und Siebziger. Die beiden Häuser in der Lausitzer Straße 10 und 11 haben die Invasion der Investoren bis heute unbeschadet überstanden, in der 11 bröckelt der Putz wie in den Nachkriegsjahren, an den Fenstern fehlen die Gardinen wie in der Zeit der Hausbesetzungen und der großen Berliner Wohngemeinschaften. In der Einfahrt zu den drei weiß verklinkerten Jugendstil-Höfen der Vereinigten Lausitzer Glaswerke, die 1917 in die Nummer 10 einzogen, hängt auch im April 2024 noch das Plakat mit dem Rastalockenkopf eines Afroamerikaners, der seit 1982 im amerikanischen Gefängnis sitzt. Es gab eine Zeit, da war halb Kreuzberg mit ihm plakatiert und forderte Freiheit für den Journalisten Mumia Abu Jamal. Doch er sitzt noch immer im Gefängnis. Gegenüber, am Weißen Brett mit der Telefonnummer der »Hausmeisterei« und den »Lauseterminen«, werden die Bewohner wie in den Siebzigern noch zur »VV« geladen, zur Vollversammlung oder Volksversammlung. »HEUTE!« um 16 Uhr, steht da mit unmissverständlichem Ausrufezeichen. Es folgt eine lange Liste verschiedenster Veranstaltungen und Projekte, sowie ein schon älteres Schreiben, in dem der Eigentümerwechsel der Immobilie bekannt gegeben wird. Darunter steht jedoch nicht wie üblich der Name eines ausländischen Investors und einer neuen Hausverwaltung, sondern der einer Genossenschaft. »Wie die meisten bereits wissen, wurde das Haus am 25. 8. 2021 vom Land Berlin gekauft.« Dass die Mieter des Hauses noch heute dort wohnen und arbeiten können, ist ihr Verdienst. Sie haben um ihre Existenz gekämpft, mit den bewährten Mitteln der außerparlamentarischen Oppositionen jener Jahre, die nicht nur aus Demonstrationen und Straßenschlachten, Baader-Meinhof und Rudi Dutschke bestanden, sondern auch aus humorvollen und intelligenten Aktionen in der Öffentlichkeit. Als der dänische Immobilienhändler TaeKker, der nach dem Mauerfall großflächig in Berlin einkaufen gewesen war, 2018 die ersten Kündigungen in der Lausitzer Straße aussprach und Gerüchte über einen geplanten Verkauf der beiden Häuser die Runde machten, gingen die Bewohner auf die Straße und eroberten mit Funk und Fernsehen schnell die Herzen der Kreuzberger. Eine der sympathischsten Widerstandsaktionen war die Eisdemo. Mit dabei waren in den Höfen ansässige Filmemacher, die nach dem Vorbild der Sendung mit der Maus eine Sendung mit der Laus drehten. Diese wurde sogar ins Dänische übersetzt und zur Blamage des Investors in dessen Heimatland gezeigt. Anschaulich und humorvoll wie die kleinen Sach- und Lachgeschichten aus der berühmtesten Kindersendung des deutschen Fernsehens ist auch die Ach- und Krachgeschichte aus der Lausitzer Straße ein gelungenes Lehrstück für die Kleinen wie für die Großen. Diesmal über den Kapitalismus. Das Filmchen erzählt von »´nem Eiswagen, der keinen Parkplatz mehr hat, ´nem ganz fiesen Investor und natürlich von der Laus und dem kleinen blauen Haus!« Simone und ihre Freundinnen stehen vor dem Eiswagen, der in ihrer Straße geklingelt hat, um sich ihr Eis zu holen, doch an diesem Tag reicht das Taschengeld nicht mehr für die Kugel. »Warum ist das so?«, fragt die Erzählerin und erklärt: »Mauro macht sein Eis in einem Haus in Kreuzberg. Das Haus gehört einem Herrn Taekker, und Hausbesitzer wie Taekker verdienen ihr Geld damit, dass sie Räume in Häusern an Menschen vermieten, die selbst kein Haus haben. Menschen wie Mauro. Und diese Miete erhöht der Herr Taecker dann immer wieder, um noch mehr Geld zu kriegen.« So auch bei Mauro, dem Eismann. Er muss jetzt also sein Eis teurer verkaufen, weil er sonst seine Miete nicht mehr bezahlen kann. Das verstehen die Kinder und die Erwachsenen. Doch dann kündigt Herr Taekker dem Eismann. Da gehen die Eisesser auf die Straße, ziehen lange Gesichter und demonstrieren. Der Film ist nah an der Realität: Am 26. Oktober 2018 erklärten sich laut Tagesspiegel 150 Kreuzberger solidarisch mit dem Eismann und den Bewohnern der »Lausi« und zogen mit dem Eiswagen von der Nummer 10 bis zum Sitz des dänischen Immobilienunternehmens am hübschen Paul-Lincke-Ufer. Nicht nur mit Demonstrationen, auch mit einer Aufführung der Kiez-Protest-Oper von »Lauratibor« am Mariannenplatz und Berichterstattungen im Radio und im Fernsehen machten die Lausitzer auf ihre Probleme aufmerksam, woraufhin Baustadtrat Schmidt dem Investor immerhin 12 Millionen für das Haus geboten haben soll. Doch Taekker habe zunächst auf seine 20 Millionen bestanden und gesagt: »Warum soll ich Ihnen etwas schenken?« Inzwischen aber hat man sich geeinigt. 2021 kaufte das Land Berlin das Ensemble, seit dem 1. 9. 2022 bewirtschaftet eine Genossenschaft die Häuser. Die etwa 170 Mieterinnen und Mieter in den Gewerbehöfen und im Wohnhaus nebenan können in den nächsten 65 Jahren sicher sein vor profitsüchtigen Investoren. Ein seltener, aber schöner Erfolg der Stadtpolitik. Das alles geschah lange nach der Eisdemo. Mauro hatte sein Lager räumen müssen. Eis verkauft er immer noch. Und die Kinder aus dem lehrreichen Filmchen mit der Laus fahren mit ihren Rädern hin und wieder bis zum Tempelhofer Feld, um dem Eismann Hallo zu sagen. Und ein Eis zu essen. Und um ein bisschen zu plaudern. |