Kreuzberger Chronik
Mai 2024 - Ausgabe 259

Mühlenhaupts Erinnerungen

Unser Doktor im Haus


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von Kurt Mühlenhaupt

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Unser Doktor gehörte mit zum Haus. Bei so vielen Mietern ist immer einer krank, da musste er dann kommen. Im Herbst und im Frühjahr ging meistens eine Grippewelle durchs Haus. Manchmal wurde sogar unser Doktor damit angesteckt. Wenn wir alle mit einem leichten Pfiff über den Hausflur schlichen, könnte es schon einmal die asiatische gewesen sein, die besonders hartnäckig auftrat. Aber auch damit wurde unser Doktor fertig. Er hungerte die Grippe einfach aus. Das hatte für die meisten den Vorteil, dass sie ein paar Pfund abnahmen. Darum machten alle mit, ohne zu murren.

Von den Bazillen, die in unserem Haus umherschwirrten, waren die vom Keuchhusten am schlimmsten, weil sie vor allem die kleinen Kinder befielen. Da unser Doktor den Betroffenen offene Fenster vorschrieb, litt das ganze Haus darunter. Wir hörten die Kranken bölksen und krächzen, dabei konnte keiner ein Auge zumachen.

Eine Treppe tiefer, bei Frau Mabel, lag die Sache anders. Es drückte hier und es drückte dort. Wenn der Doktor kam, musste er anfassen, dann waren die Schmerzen weg, aber ließ er die Stelle aber los, waren sie wieder da. Nun konnte der Doktor nicht wochenlang bei ihr sitzen bleiben. Darum war er froh, wenn sich jemand anders um sie kümmerte. Mein Versuch ging völlig daneben, weil meine Frau dazukam. Da wurde die Krankheit der Frau Mabel wieder schlimmer und der Doktor musste wiederkommen. In der Regel wusste unser Doktor Bescheid. Die meisten mußten bloß ein paar Tage krankgeschrieben werden, um sich von der Arbeit auszuruhen. Dann ging es auch wieder weiter.

Als ich mal Herrn Hengstenberg begegnete, fragte ich, ob schon immer ein Arzt im Haus war. »Früher waren hier drei«, sagte er. »Am meisten zu tun hatte der Hautarzt.« - »Sagen Sie mal, Herr Hengstenberg, können Sie mir noch mehr von dem ollen Haus erzählen?«

»Als Portier hört man jede Menge«, sagte er. »Ich wohne hier schon fünfzig Jahre. Im Vorderhaus war mal ein Arzt, der wegen seiner sozialistischen Einstellung bestens bekannt war. Bei ihm verkehrten sogar der Karl Liebknecht und die Rosa Luxemburg. Als Karl Liebknecht mal verfolgt wurde, fand er beim Arzt eine Weile Unterschlupf. Lange verstecken konnte er sich dort nicht, denn unser Haus wurde beobachtet. Aber schließlich halfen ihm die Mieter, den Häschern zu entkommen. Sie müssen mal die anderen fragen, was hier in der 13 so alles los war. Da gibt es welche, die wohnen noch viel länger hier.«



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