Mai 2024 - Ausgabe 259
Herr D.
Der Herr D. im Tunnel von Hans W. Korfmann |
Der Herr D. hatte langsam genug von Kreuzberg. Als er vor 35 Jahren ankam, war ihm das Viertel zu alternativ, zu esoterisch. Jetzt war es ihm zu spießig, zu langweilig, zu alltäglich. Er musste ab und zu raus und suchte im Internet nach den Abfahrtszeiten des 248ers, der zum Bahnhof fuhr. Nach zehn Minuten gab er auf. Er fand nur die aktuellen Abfahrtszeiten für die nächste Stunde. Da der Herr D. die BVG lange genug kannte, plante er für die kurze Strecke eine Stunde ein. An der Haltestelle stand die Frau, die er tags zuvor schon beim Zahnarzt gesehen hatte. Sie machte immer noch ein besorgtes Gesicht. Innerhalb kurzer Zeit kamen mehrere Kinder samt Müttern. Im Minutentakt zückte der bundesdeutsche Nachwuchs die Handys und verkündete, wieviele Minuten Verspätung der Bus aktuell hatte. Doch alle optimistischen, von der BVG verkündeten Prognosen bewahrheiteten sich nicht. Drei Busse fuhren in entgegengesetzter Richtung vorüber, was die Schüler nicht störte, deren Mütter aber immer nervöser machte. »Ihr schreibt doch heute eine Deutscharbeit!« - »Du hast doch heute wieder den Herrn Fleischer!« Aber die Kinder interessierten sich nicht für die Sorgen ihrer Mütter und quasselten fröhlich weiter. Ihre Sorglosigkeit gab Anlass zur Hoffnung. Die BVG weniger. Nach etwa zehn Minuten des Wartens machte sich die Meute zu Fuß auf den Weg. Die Frau mit den Zahnschmerzen blickte alle zwei Minuten abwechselnd auf die Uhr oder ihr Handy. Nichts half, die Zeiger der Uhr drehten sich unbeeindruckt weiter. Ein Mann mit Koffer schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich keine Sorgen, die Deutsche Bahn hat sicher auch Verspätung!«, scherzte der Herr D. Aber der Fahrgast hatte keine Zeit für Scherze. Das gab wenig Anlass zur Hoffnung. Als der Herr D. am Bahnhof eintraf und einen Blick auf die Anzeigetafel warf, war alles schwarz. Die Rolltreppen standen still, nur beim Bäcker und im Drogeriemarkt brannte noch Licht. Auch der Fahrkartenautomat schluckte noch Geld. Der Zug kam pünktlich, wenn auch auf einem anderen Gleis und ohne, dass die Anzeigetafel am Gleis das verraten hätte. Der deutsche Lautsprecher sprach von Problemen am Stellwerk, die Fremdsprachler sahen sich fragend an. Als der Zug auf halber Stecke im Tunnel stehen blieb, erinnerte sich der Herr D. an eine Geschichte von Friedrich Dürrenmatt, in der alle Reisenden eines Zuges vor dem drohenden Unheil die Augen verschließen und sich einreden, das Ende des Tunnels müsse gleich kommen. Doch es kommt nicht! Da sagte plötzlich ein kleiner Junge neben dem Herrn D. zu seiner Mutter: »Und wenn der Putin jetzt den Strom abgedreht hat?« Bei der Sorglosigkeit der Schüler an der Haltestelle war dem Herrn D. noch behaglicher gewesen! |