Kreuzberger Chronik
März 2024 - Ausgabe 257

Strassen, Häuser, Höfe

Markgrafenstraße 88


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von Werner von Westhafen

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Das erste Konfektionswarengeschäft Berlins

Viel war nach den Bombenabwürfen im Februar 1942 nicht übrig vom Berliner Exportviertel. In der Ritterstraße standen nur noch wenige Häuser, auch die angrenzende Linden- und Oranienstraße waren nicht mehr wieder zu erkennen, und in der Markgrafenstraße markieren bis heute viele schmucklose Neubauten und zwischen die Altbauten gezwängte Spielplätze und Grünflächen die nach Bombeneinschlägen entstandenen Nachkriegsbrachen. Zu den zerstörten Gebäuden gehört auch das Kaufhaus Heinrich Jordan, das sich zwischen Lindenstraße, Enkestraße und Markgrafenstraße befand und das eine stolze Schaufensterfront von 230 Metern Länge aufwies. Hinter den kunstvollen Fassaden des Geschäftshauses und der angrenzenden Wohnhäuser, in denen auch die Familie Jordan residierte, verbargen sich ein Park und die königliche Sternwarte. (Vgl. Kreuzberger Nr. 228: Die Enkestraße 1).

In vielen historischen Quellen wird das zerstörte Kaufhaus in der Markgrafenstraße 105 bis 107 verortet. Auch Google hat die Nummer 107 noch auf dem digitalen Stadtplan eingetragen. Doch wer auf den Spuren des Kaufhauses nach der Markgrafenstraße 107 sucht und vertrauensvoll seinem Handy folgt, befindet sich am Ende vor der Nummer 88, einem monströsen, dunkelhäutigen Neubau just an jener Stelle, an der die Markgrafenstraße von der Lindenstraße abzweigt und an der 1839 das erste Ladengeschäft Heinrich Jordans eröffnete. Schräg gegenüber befand sich das alte Kammergericht, in dem heute das Jüdischen Museum untergebracht ist.

Der kleine Laden besaß eine schmale Tür zwischen zwei kleinen Schaufenstern, doch darüber wurde in breiten Lettern auf eine noch sensationelle Neuheit hingewiesen: Fertige Wäsche! Gemeint war Konfektionswäsche in verschiedenen Größen, passende Kleidung für Dicke und Dünne, Lange und Kurze, Männer und Frauen. Jordans neue Erfindung wurde von den Schneiderinnen und Schneidern mit Besorgnis zur Kenntnis genommen, denn sie befreite nicht nur die armen Hausfrauen von lästigen Näharbeiten, sondern auch die Damen der feineren Gesellschaft vom Gang zu ihrer Schneiderin.

Dass die Berliner Moderevolution in der Markgrafenstraße stattfand, war kein Zufall. Die südliche Vorstadt mit ihren Spreeufern war lange das Zuhause der Tuchmacher, Färber und Weber gewesen. In den Läden der Lindenstraße und der Ritterstraße wurden Stoffe, Garne, Knöpfe und Schnitte verkauft. Um die Jahrhundertwende war die Bekleidungsindustrie mit 40.000 Arbeitsplätzen noch vor der Metallverarbeitung und dem Handel »mit Abstand die führende Branche« im Viertel. »Die Berufszählung erfasste im Jahr 1900 allein in der Luisenstadt 24.518 Personen, vor allem Frauen, die in der Konfektion beschäftigt waren, wobei man davon ausgehen kann, dass gerade Heimarbeit statistisch nur sehr unzureichend erfasst wurde.« Man sprach, wie das Kreuzberg Museum für eine Publikation recherchierte, von der »Konfektionshauptstadt«. 90 Prozent der Damenmäntel in Deutschland kamen aus dem südlichen Berlin. Die Arbeit der alten Luisenstädter trug damit erheblich zum wirtschaftlichen Aufschwung Berlins bei.

Der Krieg zerstörte nicht nur das Kaufhaus von Heinrich Jordan, sondern er brachte auch die gesamte Hausnummerierung der Straße durcheinander. Da der nach dem Krieg entstandene zweite deutsche Staat keine Adligen auf seinen Straßenschildern duldete, wurde der Ostberliner Teil der Markgrafenstraße 1968 zur Wilhelm-Külz-Straße. Die amputierte Markgrafenstraße war nun um einige Nummern kürzer, und so wurde aus der alten Nummer 107 die heutige Nummer 88.

Nach dem historischen Eckhaus mit dem ersten Laden Heinrich Jordans sucht man vergeblich, doch neben dem an dessen Stelle errichteten Neubau stehen noch heute zwei Häuser aus alter Zeit - genau so, wie sie der Fotograf der Postkarte mit der Kutsche vor dem Kaufhaus für fertige Wäsche 1902 festgehalten hat.



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