Kreuzberger Chronik
März 2024 - Ausgabe 257

Kreuzberger
Johannes Groschupf

Ich konnte die DDR nicht mehr ernst nehmen


linie

von Hans W. Korfmann

Fotos: Holger Groß

1pixgif
Von sich selbst zu schreiben begann Johannes Groschupf erst zur Hälfte des Lebens. Vielleicht, weil ihm sein eigenes Leben bis zu diesem Tag eher bedeutungslos erschien. Lüneburg zum Beispiel, diese überschaubare deutsche Kleinstadt, in der alle in geordneten Verhältnissen lebten. Langweilig! Eine Stadt, von der man »mit 19 genug hat«, aus der man weg muss. Lüneburg war keine Zeile wert für einen, der gerade Berlin Alexanderplatz gelesen hatte, diesen Roman von Alfred Döblin, in dem alles enthalten zu sein schien, was das Großstadtleben ausmacht: das leise Liebesgeflüster, das Fluchen, das Lachen, das Jammern der Kranken und der leblose Ton in Gesetzes-texten und Verordnungen, der bedrohliche Klang der Polizeiverhöre. Er liebte dieses Buch, aus dem das helle Quietschen der Straßenbahnen und das müde Knarren der Treppenstufen klang, aus dem der Geruch der Kohleöfen und der Spree drang, das Zwielicht verrufener Gassen und das unruhige Licht der Petroleumlampen. Alles das entströmte den Seiten von Berlin Alexanderplatz. Großartig!

Der Roman brachte Johannes Groschupf auf die Idee, Germanistik zu studieren. Natürlich in Berlin. Dass er in Berlin der Bundeswehr entkam, war nur ein willkommener Nebeneffekt seiner Flucht aus Lüneburg. Er wollte diese Stadt erleben, er wollte wie Bieberkopf in Kneipen sitzen, die Schmales Handtuch hießen oder Schultheiss-Eck, in denen sich die Gespräche nicht um Liebe oder Tod, sondern um die beiden großen Großstadtthemen drehten: Arbeit und Wohnung. Groschupf hat Berlin nie wieder verlassen. »Berlin war nie langweilig.«

1982 zog er nach Neukölln, Fuldastraße Ecke Sonnenallee. Damals wohnten da ganz normale Leute. Die Studenten wohnten in Kreuzberg oder Schöneberg, aber Groschupf fühlte sich wohler unter den kleinen Leuten, lief durch die Stadt und fühlte sich ein bisschen wie damals in New York, als er mit Fünfzehn »schlaflos die Avenues rauf- und runtergelaufen war«, nächtelang. Er eroberte unbekannte Städte nicht in Kreisen wie andere. »Ich habe mich absichtlich verlaufen – also: man zweigt irgendwann ab in eine Seitenstraße, geht dann mehrmals rechts und links, bis man keine Ahnung mehr hat, wo man ist. Und dann wird es spannend. Großstädte haben mich schon immer fasziniert.«

Neukölln inspirierte ihn, aber er begann, andere Stadtviertel zu erforschen, Kreuzberg und Prenzlauer Berg, wo Flugblätter, Raubdrucke und Untergrundzeitschriften gedruckt wurden mit merkwürdigen Titeln wie Schaden oder Entwerter/Oder. Der Osten war spannender, dort wanderten die Leute für ihre Gedichte noch in den Knast.

Die Literatur der Achtzigerjahre war politisch, und wie viele junge Westberliner sympathisierte Groschupf mit sozialistischen Alternativen. Aber die DDR konnte er »nicht mehr richtig ernst nehmen.«

Er wurde zum Fluchthelfer und Verräter, indem er Marion heiratete, die Freundin eines Kommilitonen, die damals das Haus der Jungen Talente leitete, aber lieber auf der anderen Seite der Mauer leben wollte. »Natürlich wussten wir, dass wir ständig bespitzelt wurden. Also haben wir uns fingierte Liebesbriefe geschrieben, da standen dann so herzerweichende Sätze drin wie: »Ach, wie schön wäre es, wenn wir zusammenleben könnten!«

Auf dem Standesamt, 1987 - Bilder: Tex Köppen


Offensichtlich waren die schriftstellerischen Fähigkeiten des vermeintlichen Liebhabers weit genug ausgereift, um auch bei den argwöhnischen Beamten der Stasi keine Zweifel an der Echtheit der brieflichen Gefühlsbekundungen auftauchen zu lassen, und so standen im Sommer 1987 Johannes und Marion auf dem Standesamt in Prenzlauer Berg, umringt von einem großen Freundeskreis. »Natürlich waren wieder ein paar Leute darunter, bei denen wir uns fragten, wo die jetzt eigentlich wieder herkamen.« Das war nicht weiter beunruhigend, das kannte man schon. Aber als Johannes die beiden Spielzeugringe von Karstadt in das Messingschälchen warf, wo sie nur ein dumpfes Plopp und kein klingendes Klingeling hervorriefen, sondern ein paar erschreckend große Augen einer überraschten Standesbeamtin, wurde ihm dann doch etwas mulmig zumute.

Aber auch in der DDR hatte man keine Lust auf Skandale. Also verlas man am Ende der Veranstaltung feierlich den schönen Satz Ernst Thälmanns, der seiner Geliebten aus dem Gefängnis geschrieben hatte: »Ein Leben ohne Liebe ist wie ein Himmel ohne Sterne!«

Ein Jahr später ließ sich das frisch vermählte Paar wieder scheiden, aber nach dem offensichtlichen Erfolg der Liebesbriefsammlung war Groschupfs Selbstbewusstsein gestärkt. Groschupf versah etwa 30 kunstvolle Din A 4-Seiten voller Text- und Bildkollagen, die er mit der Nagelschere akkurat aus Tageszeitungen extrahiert hatte, mit bissigen Kommentaren, legte sie in einen Kopierer und heftete sie zu einem Heftchen zusammen und verlöffentlichte unter dem dem Pseudonym Olga O´Groschen eine Gebrauchsanweisung für Neukölln.

Das Elaborat aus dem Copyshop lag zuerst nur an wenigen ausgewählten Orten, zum Beispiel beim Wahren Heino im Scheißladen in der Großbeerenstraße. Ein Jahr darauf entdeckte die taz den zerfledderten Papierstapel und druckte in drei aufeinanderfolgenden Ausgaben Groschupfs erste publizistische Wortmeldung. Die Serie erregte Aufsehen, Groschupfs Gebrauchsanweisung wurde verrissen und gelobt, nur gleichgültig blieb sie niemandem. Die Berliner Taxifahrer boten plötzlich Neukölln-Touren an, und weil Groschupf so wie alle Studenten unter chronischer Geldnot litt, beschloss er, nicht Schriftsteller, sondern Journalist zu werden.

1988 zog Groschupf in die Bergmannstraße. Obwohl er noch immer davon überzeugt gewesen war, dass Lüneburg eigentlich keine einzige Zeile wert sei, war sein erster journalistischer Auftrag ein Porträt seiner Heimatstadt, die, wie er schreibt, bevölkert sei »von düster schweigenden Einwohnern, die erst vor wenigen Generationen aus den Wäldern gekrochen sind. Zwischen Moor und Marsch und dürrer Heide haben sie sich angesiedelt und ihren Wohnstätten dunkle Namen gegeben: Radbruch, Hitzacker, Walsrode, Faßburg.« Diese eindrucksvollen Sätze las ein Redakteur der ZEIT, der Groschupf fragte, ob er Lust habe, ein Porträt über Mölln zu schreiben – einen vergessenen Ort, der in die Schlagzeilen geriet, als Neonazis 1992 einen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft verübten, bei dem drei Frauen starben.

Nun wandelte der junge Mann aus Lüneburg einige Jahre abseits der Spuren Döblins und schrieb nicht über Berlin, sondern über Großstädte wie Kiew und Tokio, oder er durchwanderte menschenleere Landstriche in Sibirien oder Kamtschatka. Groschupf wurde zum Reisejournalisten. Es waren interessante Jahre, denn damals schrieben Reisejournalisten nicht über Hotels und Strände und Reiseveranstalter, »da konnte man über alles Mögliche schreiben. Über Hunger, Krieg, Wüsten, Armut…. Und dann gingen ja Ende der Achtziger in Berlin gerade alle Vorhänge auf. Die Welt lag offen vor uns.« Groschupf reiste und schrieb, und so hätte es weitergehen können.

Aber dann kam die Häfte des Lebens. 1994. Ein unauffälliger Donnerstag im März, der alles veränderte. Der Tag, an dem er über sich zu schreiben begann. Sie waren in der Sahara, hatten einen Berg bestiegen und wollten wieder zurück. Er stand da und überlegte nur einen kurzen Augenblick, zu welchen seiner Kollegen und in welchen der beiden Hubschrauber er steigen sollte. Es war der Bruchteil einer Sekunde, der über die zweite Hälfte seines Lebens entschied. Sie waren kaum in der Luft, da bemerkten sie, dass das Fluggerät taumelte. Die Journalisten, die auf Benzinkanistern im Laderaum des Militärhubschraubers saßen, warfen sich nervöse Blicke zu. Dann überflogen sie einen Berg, hatten Aufwind, alles schien sich zu stabilisieren, aber kaum hatten sie den Berg hinter sich, verlor der Hubschrauber an Höhe. Es wurde hektisch, die Piloten schrieen durcheinander. Dann schlugen auf.

Alles brannte, alle brannten, kratzten an den Fenstern, kamen nicht raus. Johannes Groschupf saß in der Ecke und gab auf. Er dachte an seine Kinder, »versuchte, loszulassen«, aber dann sah er zwischen all dem Rauch und den Flammen Licht, erkannte das Cockpit, die zerborstene Frontschreibe des Hubschraubers, und irgendwie kam er durch und an den anderen und den Piloten vorbei, schaffte es hinaus ins Freie und rannte, »hundert Meter vielleicht, und dann drehte ich mich noch mal um und dachte an die Benzinkanister. Im selben Augenblick flog schon alles in die Luft, eine gewaltige schwarze Rauchwolke stieg in den Himmel, und ich dachte, sie sind vielleicht dahinter, sie sind vielleicht auch alle noch rausgekommen. Aber da war niemand mehr. Ich war der Einzige.«

Noch heute, wenn er von diesem Donnerstag in der Mitte seines Lebens erzählt, wird der stille und nachdenkliche Johannes Groschupf noch etwas stiller und nachdenklicher. Der Blick wird unruhig, fällt auf den Tisch, auf sein Notizbuch, das immer dabei ist, streift kurz sein Gegenüber, ohne es zu erkennen, fällt aus dem Fenster, ohne die durch den Regen pflügenden Autos zu sehen, sondern schweift weiter in die algerische Sahara. Es gibt Bilder im Leben, die sich immer wieder in den Vordergrund schieben. Die von weit her kommen. Deshalb heißt Groschupfs erster Roman, mit dem er nicht mehr als Journalist, sondern als Literat zu erzählen beginnt: Zu weit draußen!

Er erzählt vom Sturz und vom langen Weg zurück ins Leben. »Zurück nach Kreuzberg! Das vergesse ich nie, wie das war, zurückzukommen.« Er war zu weit, zu lange draußen gewesen, im Krankenbett, in den Kliniken. Noch nie hatte er »so viel Zeit gehabt zum Nachdenken. Da habe ich zwei Entschlüsse gefasst: Ich wollte einen Roman schreiben und tanzen lernen! Ich habe beides geschafft!«

Fast ein Jahr lang verbrachte er in dieser Einsamkeit, eingewickelt wie eine Mumie, musste Hauttransplantationen über sich ergehen lassen, wusste nicht, wer da herauskommen würde aus dieser Verschalung, wie das sein würde, wenn er eines Tages wieder seinen Kindern gegenüberstünde. Lange zögerten die Ärzte, ihm den Spiegel vorzuhalten. »Und ich weiß es heute noch genau, wie sich das anfühlte, als ich das erste Mal wieder auf der Zossener Straße stand, vor diesem vergammelten Plattenladen: Plötzlich ist die ganze Welt wieder da, die Großstadt mit all ihren Gerüchen, Geräuschen, Gesichtern… «. Komprimiert wie in Berlin Alexanderplatz. 30 Jahre ist das her, Johannes Groschupf ist jetzt 60. Aber dieser Tag ist so nah wie gestern.

Der Roman wurde ein Erfolg. Groschupf saß vor Fernsehkameras und Radiomikrofonen. Noch am selben Abend, an dem er in einer Talkshow auftrat, war die 3. Auflage ausverkauft. Seitdem hat Groschupf mehrere Bücher veröffentlicht, mehrmals den Grimmepreis erhalten. Seine letzten drei sind Kriminalromane, Großstadtromane, Romane aus einer Stadt, die er mit wenigen Sätzen und doch mit großer Präzision beschreiben kann. Berlin-Romane.

Im letzten, in der »Stunde der Hyänen«, geht es um einen Mann, der wie Bieberkopf seine Wohnung verloren hat. Der im Bulli schläft, am Landwehrkanal, und im Feuer aufwacht. »Der Wagen war voller Rauch, jeder Atemzug bitter. ... Er hörte den Fraß der Flammen, wischte sie zur Seite, griff in die Glut und roch das verbrannte Fleisch, sein Fleisch, spürte noch keinen Schmerz, sondern dachte an den Benzintank unter sich...« Und der irgendwann im Urbankrankenhaus wieder zu sich kommt, »einem grauen Block, der in den trüben Februarmorgen ragt«.

Es gibt viele gute Autorinnen und Autoren, sagte einmal ein alt gewordener Kritiker, »die können wunderbare Sätze formulieren und wunderbare Geschichten konstruieren, und die lassen sich wunderbar verkaufen. Aber sie haben nichts zu sagen. Weil sie nichts erlebt haben. Man muss etwas erlebt haben, um zu schreiben. Sonst macht das alles keinen Sinn. Sonst ist das keine Literatur.«

Johannes Groschupf hat genug erlebt.






zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg