Kreuzberger Chronik
März 2024 - Ausgabe 257

Geschichten & Geschichte

Steinmetze lügen nicht


linie

von Christoph Hamann

1pixgif
Der 18. März ist der Höhepunkt des Politjahres. Zumindest für die Aktion 18. März. Seit über 40 Jahren erinnert sie an die Märzrevolution von 1848. Seit 1987 auch auf dem Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain. Da liegen sie, die Barrikadenkämpfer und Märzopfer: Arbeiter, Weberinnen, Dienstmädchen, Schmiede, viele Gesellen und wenige Meister. Die Listen der Märzgefallenen nennen fast ausnahmslos Frauen, Männer und Kinder aus den Unterschichten. Gotthold Heine ist eine Ausnahme. Er hatte studiert und promoviert, er gehörte zu den wenigen Opfern aus dem Bürgertum. Heine ist auch in anderer Hinsicht eine Ausnahme: Es existiert ein Totenbild aus dem Jahr 1848, von dem angenommen wird, dass es ihn zeigt. Es wäre das vermutlich einzige eines Märzopfers.

Heine begann 1837 mit dem Studium der Theologie, um letztendlich Historiker zu werden. (Vgl. Kreuzberger Nr. 228). Heinz Warnecke von der Aktion 18. März veröffentlichte 1998 als erster eine verdienstvolle Recherche über Heine. Ihn interessierten vor allem dessen Todesumstände, denn Heine erlag Verletzungen, die er bei den Barrikadenkämpfen erlitten hatte. Eine Kugel hatte ihn in den Hinterkopf getroffen, als er sich in einem Restaurant im ersten Stock nahe der Barrikade an der Rathausstraße befand. Eine Quelle berichtet: »Gegen die Fenster der Restauration von Rosch (…) wurde ein anhaltendes Gewehrfeuer gerichtet, weil von dort aus die ersten Schüsse gefallen waren.« Ein Major a. D. wohnte im Haus gegenüber und hatte den Soldaten seine Wohnung im ersten Stock angeboten, damit sie besser in das Restaurant feuern konnten. »Als die Soldaten endlich in das Restaurationslocal von Rosch gedrungen waren, wüteten sie mit den Bajonetten gegen Wehrlose, erstachen einen, der sich unter den Tisch geflüchtet hatte, und nahmen sogar den Arzt gefangen, welcher den auf roheste Weise Verwundeten Hilfe leistete.« Bis heute bleibt ungeklärt, ob Heine ein Märzgefallener war oder ein zufälliges Opfer.

Unterschiedliche Angaben finden sich auch über Heines Todestag und den Ort seiner Beerdigung. Der Paul Singer Verein, Träger des Gedenkortes Friedhof der Märzgefallenen, legt sich auf den 18. März als Heines Todestag und den 22. März als Datum seiner Beerdigung fest. Mehrere historische Quellen jedoch widersprechen dem.

Der einfachste Weg, um sich über das Todesdatum eines Verstorbenen zu informieren, ist ein Gang zum Friedhof. Steinmetze lügen nicht, und Gotthold Heines Name steht nicht, wie man vermuten könnte, auf einem Grabstein in Friedrichshain, sondern auf einem Grab zwischen den Ruhestätten seiner Geschwister am Halleschen Tor: »Wilhelm Gotthold Heine, geb: am 9 Juni 1819, gest: am 22 März 1848.« Demnach ist Heine an jenem Tag gestorben, an dem die Märzgefallenen auf dem Friedhof im Friedrichshain beerdigt wurden. Dies bestätigt auch die Todesanzeige, die Heines Geschwister noch am Tag seines Ablebens in Auftrag gegeben haben: «In Folge einer am Abend des 18ten d. M. erhaltenen Schußwunde verschied heute der Candidat der Theologie und Dr. phil. Gotthold Heine im 28sten Lebensjahre. Diesen schmerzlichen Verlust beehren sich hiermit ergebenst anzuzeigen Berlin, den 22sten März 1848, die Geschwister. Die Beerdigung findet Montag, den 27sten, um 8 Uhr, von der Kochstraße No. 8 aus statt.« Heine wurde demnach am 18. März verwundet, starb am 22. März und wurde am 27. März begraben.

Auch Heinz Warnecke lokalisierte Heines Grab im Friedrichshain, wie es die sogenannte Deichmann-Liste angibt. Drei Quellen verschiedener Herkunft dagegen belegen, dass Heine am 27. März auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof I am Mehringdamm beerdigt wurde. Erstens: eine zeitgenössische Magistratsakte. Diese Liste hat den Vorzug, weitaus detailliertere Angaben zu machen als andere Unterlagen. Der handschriftlichen »Nachweisung« über die »nachträglich an den erhaltenen Wunden verstorbenen und bestatteten Freiheitskämpfer« kann man entnehmen: Name, Beruf, Wohnort, Todestag, Datum des Totenscheins, Tag und Ort der Beerdigung. Auch nach dieser Quelle starb Heine am 22. März. Der »Nachweisung« zufolge wurde Wilhelm Gotthold Heine am 27. März auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof vor dem Halleschen Tor beerdigt.

Das bestätigte auch Heines Schwager Dr. Carl Westphal in einem Brief an den Magistrat von Berlin. Gotthold Heine sei »nicht auf dem Friedrichshain, sondern auf dem Halleschen Friedhof beerdigt worden.« Zuletzt verweist auch die Genealogin Angelika Ellmann-Krüger darauf, dass das Totenbuch des Dreifaltigkeitsfriedhofs die Beerdigung Heines am 27. März 1848 vermerkt. Sie schreibt: »Eindeutig ist, dass er tatsächlich auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof beerdigt ist.«

Doch es bleibt die entscheidende Frage: Ist Heine eigentlich ein Märzgefallener? In dem Schreiben an den Magistrat stellt Gottholds Schwager fest, dieser sei »nicht als Combattant, sondern durch einen unglücklichen Zufall getötet« worden. Das Restaurant, in dem sich Heine befand, lag im ersten Stock unmittelbar über einer Barrikade. Die Kugel traf ihn im Restaurant und nicht auf der Barrikade. Eine zeitgenössische Quelle belegt aber, dass zwischen Restaurant und Barrikade kein Unterschied gemacht werden kann. Da in der Königs-, Ecke Poststraße, die »ersten Schüsse aus den Fenstern des dortigen Restaurations-Locals gefallen (…) waren, waren es besonders diese, welche den Truppen zur Zielscheibe dienten.« Hatte Heine vielleicht doch aus einem Fenster mit der Flinte auf die Königlichen angelegt?


zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg