März 2024 - Ausgabe 257
Geschäfte
Schuhe machen Leute von Erwin Tichatschek |
»Ich erinnere mich da an einen Stammkunden,« sagt der Schuhmacher aus der Markthalle, »das war noch in Charlottenburg. Ein Mann hatte angerufen und gefragt, ob wir auch Budapester Schuhe reparieren würden. Ich habe gefragt, warum denn nicht? Einige Tage später kam ein sehr fein gekleideter Herr in meinen Laden. Ein sehr, sehr feiner Herr, und der brachte mir ein Paar brauner Budapester mit weißer Spitze, so ein Modell, das auch Frank Sinatra immer trug. Er fragte, ob ich die noch reparieren könne. Die Nähte waren aufgegangen, Absätze und Sohlen abgelaufen. Ich sagte: Natürlich.« Eine Woche später kam er zurück. Als er seine Schuhe sah, sagte er: »Unglaublich!« Der war richtig glücklich. »Wissen Sie, die trage ich schon seit 60 Jahren!« - »Wie alt sind Sie denn?« - »Über 90. Aber ich habe jahrelang nach einem Schuster gesucht. Die wollte keiner mehr machen, und jetzt sehen sie aus wie neu!« Der feine Herr hatte viele handgemachte Budapester, und er brachte sie nach und nach alle zu seinem neuen Schuster. Aber welchen Beruf er einmal ausgeübt hatte, welchen Weg er gegangen war, hat er nie erzählt. Und der Schuster hat nie danach gefragt. Auch in der Marheinekehalle gibt es feine Leute. Schauspieler zum Beispiel, die legen Wert auf gute Schuhe. Manchmal kommen sogar welche aus dem Ausland. Da war mal eine junge Frau, eine große, schöne Frau, die brachte einen Stiefel, der bis übers Knie ging. Aus weichem, gutem Leder. Es war nur eine Kleinigkeit gewesen, die zu machen war, der Stiefel war am nächsten Tag fertig. Aber sie kam nicht, sie abzuholen. Ein Jahr verging, da stand sie wieder vor ihm und erklärte etwas auf Englisch, was er kaum verstand. Sie gestikulierte wie verrückt und zeigte endlich ihr Knie, bis er verstand und aus einem Karton in der Ecke einen einsamen, bis übers Knie reichenden Wildlederstiefel hervorzog. »Die hat sich so gefreut!« Auch Leute mit weniger luxuriösen Schuhen kann der Schuster beglücken. »Die kommen manchmal mit drei, vier Paar Schuhen in einer Plastiktüte, billige Schuhe, bei denen keine Reparatur mehr lohnt. Aber sie bestehen auf neue Sohlen und neue Absätze. »Da sind Sie aber bei 90 Euro!« - »Das spielt keine Rolle!«- Er zieht kurz die Brauen hoch und zieht die Stirn in Falten, dann aber nickt er und geht an die Arbeit. Der Sohn des Schusters dagegen schüttelt manchmal den Kopf. Dann gibt es Proteste: »Ihr Vorgänger hat immer alles gemacht!« - Der Sohn des Schuhmachers antwortete dann gerne: »Wir machen auch alles. Aber nur, wenn es Sinn macht.« Der Sohn hat viel vom Vater gelernt, auch das Reden. 2022 zogen die beiden mit den Schuhen, den Maschinen und einigen Stammkunden von Charlottenburg nach Kreuzberg. Sie haben sich eingelebt, obwohl die multikulturellen Kreuzberger anfangs ziemlich zickig waren und ständig herumnörgelten: »Ich hoffe, Sie sind auch so gut wie ihr Vorgänger?« - »So viel Geld für so wenig Kleben?« Sie beäugten den Ring in der Nase des Sohnes und stellten fest, dass die neuen Schuhmacher auch keine Deutschen in 25. Generation mehr waren. »An dieses Schubladendenken hab ich mich gewöhnt. Das macht nix. Aber man könnte es ruhig auch mal weglassen!« Inzwischen sei die Skepsis der Kundschaft verflogen. Wer einmal hier war, kommt wieder. Die Leute merken, dass die beiden Männer ein besonderes Verhältnis haben zu Schuhen. Auch zu den ausgelatschten. »Die Leute kommen ja mit ihren Liebeleien«, den Stöckelschuhen, die ihnen ein Verehrer geschenkt hat, der Aktentasche des Großvaters, den Wanderstiefeln, mit denen sie die Alpen überquerten. Schuhe erzählen Geschichten. Die Menschen hängen an ihren Schuhen. Und trotzdem vergessen sie so oft. Kürzlich kam einer und sagte, er habe den Abholzettel verloren, aber er könne die Schuhe genau beschreiben. Wann er die denn vorbeigebracht habe, fragte der Schuster. »Na, so vor drei Monaten....« Also stieg der Schuster hinunter in die Katakomben unter der Halle, wo das Lager ist, und kramte in der Bananenkiste mit den vergessenen Schuhen der letzten 18 Monate. Daneben steht noch eine Kiste, voll mit Charlottenburger Schuhen. Er hat noch keinen Schuh weggeworfen. »Die Leute lieben ja ihre Schuhe.« Auch der Sohn würde nichts wegwerfen. Er hat gelernt vom Vater, über die Schuhe, über das Reden, über die Menschen. Das schafft Vertrauen. Jetzt kommen sogar schon die Geschäftsbesitzer aus Neukölln mit ihren fabrikneuen Schuhen in die Markthalle, wenn die Nähte locker sind oder ein Absatz wackelt. Dann stellen sie die neue Mode wieder ins Schaufenster. Sie kommen alle wieder. Nur der feine Herr mit den Budapestern ist nicht mehr aufgetaucht, seit sie Charlottenburg verlassen haben. Aber es würde die Schuster nicht wundern, wenn er eines Tages wieder da stehen würde mit seinen inzwischen sechzig Jahre alten Budapester Schuhen. Der Schuster hat sich oft gefragt, warum der alte Mann so lange nach einer Werkstatt hatte suchen müssen. »Vielleicht waren die anderen zu teuer! Die sahen die Schuhe, bekamen große Augen und verlangten gleich das Doppelte. Aber so große Augen habe ich nicht.« |