Kreuzberger Chronik
März 2024 - Ausgabe 257

Frisch von der Leinwand

Anatomie eines Falls


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von Anna Prinzinger

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Es ist soweit: Gut drei Monate nach Erscheinungsdatum habe ich es endlich mal in diesen Film geschafft. Und auch gut drei Monate nach dem Kinostart war der Saal des Yorckkinos für einen Donnerstagabend noch gut gefüllt. Dazu muss man aber sagen, dass Anatomie eines Falls gerade für fünf Oscars nominiert wurde und schon deshalb viele Leute ins Kino zog.

Wie der Titel schon andeutet, geht es um einen Gerichtsprozess, der den Sturz eines Mannes aus dem Dachgeschossfenster seines Hauses untersucht. Seine Frau Sandra, gespielt von der genialen Sandra Hüller, ist des Mordes angeklagt, die Verteidigung plädiert auf Selbstmord. Der elfjährige Sohn Daniel ist der einzige Zeuge. Der Junge hat nach einem Spaziergang seinen Vater auf dem Boden vor dem Haus gefunden. Ein Problem: der Sohn ist aufgrund eines Unfalls, an dem der Vater sich die Schuld gibt, seit einigen Jahren blind.

Die Ehe von Sandra und Samuel ist zerrüttet, aber ist das ein Beweis für ihre Schuld? Der Film lässt beide Seiten ausführlich zu Wort kommen. Daniel muss viele Fragen über die Beziehung seiner Eltern und den Todestag des Vaters beantworten und hört während der Verhandlung Dinge über seine Eltern und deren Streitigkeiten, die ein Elfjähriger sonst eher nicht zu hören bekommt. Und es tauchen Erinnerungen auf, die den Vorfall in einem neuen Licht dastehen lassen.

Der Film ist lang - so lang, dass mir am Ende der Hintern weh tat. Aufstehen und hinausgehen wollte ich aber auch nicht. Denn mit jedem neuen Indiz, jeder neuen Zeugenaussage bewegte sich die Handlung in eine neue Richtung. Bis zum Finale bleibt unklar, was passiert ist, selbst nach der Vorstellung wird auf der Yorckstraße noch lange diskutiert, ob Sandra es nun war oder nicht.

An den Kinositz fesselt dieser Film aber auch, weil er beeindruckend realistisch wirkt und weil die Schauspieler so spielen, als stünden sie nicht vor der Kamera, sondern im wahren Leben vor Gericht. Man glaubt ihnen jedes Wort. Auch dann, wenn andere ebenso glaubwürdig das Gegenteil behaupten. Sowohl die Angeklagte wie auch die Schauspielerin Sandra Hüller betonen die Relativität der Wahrheit eindringlich und immer wieder: »Das ist nur ein Ausschnitt der Realität«.

Der Film ist eine französische Produktion, im Original wird Englisch und Französisch gesprochen. Der Prozess wird auf Französisch geführt, und wer sich den Film in der Originalfassung ansehen möchte und kein perfektes Französisch spricht, sollte unbedingt darauf achten, dass kein Basketballer vor ihm sitzt, dessen Schädel die Hälfte der deutschen Untertitel verdeckt.


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