Kreuzberger Chronik
Juni 2024 - Ausgabe 260

Strassen, Häuser, Höfe

Die Philharmonie von Kreuzberg


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von Werner von Westhafen

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Die Bernburger Straße 22/23

Viel ist nicht übrig geblieben von der Bernburger Straße. Gerade mal vier Gebäude haben die Nacht vom 30. Januar 1944 überstanden. Heute besteht die Straße aus einer Reihe schmuckloser Klinkerbauten, nichts lässt vermuten, dass hier ein Kulturpalast stand. Nur eine kleine, zwischen den Mülltonnen der Mietshäuser ins Pflaster versenkte Gedenktafel erinnert daran, dass hier einst ein imposanter Konzertsaal mit 2500 Plätzen stand: Die Alte Philharmonie.

Ihre Geschichte endete wie die so vieler anderer historischer Orte Berlins, und auch ihr Anfang ähnelt dem vieler anderer. Das Land bestand noch aus Feldern und Wiesen, als ein ausländischer Investor auf die Idee kam, in der Nähe des Anhalterbahnhofs eine Rollschuhbahn zu eröffnen. 1876 kaufte die englische Skating Ring AG das Grundstück Bernburger Straße 22a/23 und errichtete eine schmuckvolle Halle. Doch was die englische Jugend begeisterte, ließ die Deutschen kalt. Die erwarteten Massen blieben fern und schon nach fünf Jahren verkauften die Engländer an einen Italiener: Ludovico Sacerdoti, bis dahin Geschäftsführer der Rollerbahn.

Der musikalische Südländer hatte die Idee, die schöne Halle in vorteilhafter Lage für Konzerte zu nutzen. Er installierte jedoch keine gepolsterten Sitzreihen, sondern kaufte 1614 hölzerne Klappstühle, die man anlässlich von Tanzveranstaltungen auch wieder beiseite räumen konnte. Neben guten Ideen hatte der Italiener auch das Glück, dass gerade der umtriebige Konzertagent Hermann Wolff in Berlin auftauchte und Auftrittsmöglichkeiten für die berühmte Meininger Hofkapelle suchte. Die beiden Männer waren sich schnell einig, und als Wolff auch noch die Leitung des Bilseschen Orchesters übernahm, das wegen schlechter Bezahlung in den Streik getreten war und sich gerade neu formierte, dauerte es nicht mehr lange, bis die Berliner Philharmoniker gegründet wurden.

Bereits fünf Jahre später hatte Sacerdoti genug verdient, um die Mehrzweckhalle zu einem echten Konzerthaus umzubauen. Er beauftragte mit dem Umbau keinen Geringeren als Franz Schwechten, der schon in der Nähe ein imposantes Bauwerk in den Sand gepflanzt hatte: den Anhalter Bahnhof. Die Akustik war gut, der überbordende Stuck an Decken und Wänden schluckte die Schallwellen selbst schriller Instrumente, weshalb die neuen Philharmoniker die einstige Rollschuhbahn zu ihrem Stammhaus machten und regelmäßig in der Bernburger Straße auftraten. Wenige Monate nach der feierlichen Eröffnung im Sommer 1888 waren vergangen, da erhielt die einstige Rollschuhbahn in der Bernburger Straße einen neuen Namen: Berliner Philharmonie.

Zehn Jahre später kaufte der erfolgreiche Italiener ein angrenzendes Grundstück, das bis zur Köthener Straße reichte, und ließ im alten Pausengarten die mit Mahagoni getäfelte Beethovenhalle für weitere 1000 Gäste errichten, sowie einen prunkvollen, 13 Meter hohen Oberlichtsaal, der für offizielle Empfänge ebenso wie für private Festlichkeiten angemietet werden konnte. Die Hallen boten Platz für einen Kongress der Antifaschisten ebenso wie für eine Feier anlässlich des Geburtstags Otto von Bismarcks. Die Philharmonie wurde zu einem der aufregendsten Orte Berlins und die Säle waren vom Nachmittag bis weit in die Nacht hinein ausgebucht. Selbst Berthold Brecht und Hanns Eisler mussten mit der Uraufführung ihrer »Maßnahme« am 30. September 1930 noch bis Mitternacht warten, um mit der Vorstellung beginnen zu können.

Es wurde nicht nur Rollschuh gelaufen, Musik und Theater gespielt in der Bernburger Straße. Wer genügend Geld hatte, der konnte die für kinematographische Darstellungen, Saufgelage, Werbeveranstaltungen oder seriöse wissenschaftliche Vorträge mieten. In der Bernburger Straße fand der »Stenographentag« statt und Ende der Dreißigerjahre das »Reichswettkochen«. Schwierige Zeiten brachen an, Brecht kam hier nicht mehr zu Wort, als Thomas Mann lesen wollte, ließ Goebels die SA aufmarschieren, und aus den Berliner Philharmonikern wurde das Reichsorchester.

Am Nachmittag des 30. Januar sah das Publikum Schuberts Winterreise, am Abend fielen die ersten Bomben. Um halb zehn war die Berliner Philharmonie völlig ausgebrannt. 1952 wurden die letzten Überreste gesprengt, 13.000 Kubikmeter Schutt wurden in den Grunewald transportiert und bildeten den Grundstock für Berlins höchste Erhebung: den Teufelsberg.

Geblieben sind eine kleine Gedenktafel zwischen Mülltonnen und einige unvergessliche Erinnerungen. Zum Beispiel die an Albert Einstein, der, nachdem in der Philharmonie eine Protestveranstaltung seiner Gegner gegen die Relativitätstheorie stattgefunden hatte, eben dort 1932 seine Abschiedsvorlesung gab.

Einstein war seiner Zeit zu weit voraus gewesen, ebenso wie jener Mann, dessen Namen bis vor wenigen Jahren kaum jemand kannte. Ein Mann, der den Berlinern in der Philharmonie erklären wollte, wie man zum Mond und sogar zum Mars fliegen könne. Zu einer Zeit, als in den Straßen Berlins noch Pferdeäppel lagen. Man hielt ihn für einen Scharlatan und Betrüger, am Ende landete der Erfinder sogar im Gefängnis: Johann Hermann Ganswindt.



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