Kreuzberger Chronik
Juni 2024 - Ausgabe 260

Sabine Drwenzki Kreuzberger
Kai Sichtermann

Ich kann nur Lagerfeuerklampfe


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Sabine Drwenzki

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Kai Sichtermann sitzt im Ristorante Primavera beim Mittagstisch vor einem großen Salat. Er will gerade an seinem Rotweinglas nippen, da klopft ihm jemand auf die Schulter und ruft: »Ah, da sitzt er ja! Ich habe gerade mit Lanrue telefoniert, er ist einverstanden. Wir machen das.«

Wenn sich Kai Sichtermann und Albrecht Metzger, die Fernsehlegende, die seit 1976 den Rockpalast moderierte, einmal zufällig treffen, klingt es, als sähen sie sich täglich. Dabei ist es über 40 Jahre her, dass die Scherben in der Sendung auftreten sollten und zu Metzger sagten: »Nur unter der Bedingung, dass Du uns mit Deinem schwäbischen Englisch ankündigst.« Metzger schlug ein, und als es soweit war, begann er tatsächlich wie in all den anderen Sendungen, in denen er angloamerikanische Rocklegenden wie Grateful Dead, Patti Smith und The Who ankündigte: »German Television proudly presents« – dann zögerte er einen Moment, vielleicht, weil er ahnte, wie komisch die drei deutschen Worte jetzt klingen würden, aber dann sagte er es doch: »German Television proudly presents - Ton, Steine, Scherben

Kai Sichtermann erinnert sich und grinst. Es ist ein freundliches Grinsen, fast schon ein Lächeln. Es erweckt den Anschein, als hätte es sich in siebzig Jahren kaum verändert. Als wäre es noch das Grinsen dieses etwas schüchternen Jungen, der in der Schule kaum den Mund aufmachte, obwohl er aufmerksam zuhörte und ein Auge hatte auf alles, und der sich noch heute genau erinnern kann an Herrn Enz, den Lehrer, der noch nach dem Rohrstock im Schulschrank griff und Kai dazu zwang, mit rechts zu schreiben, obwohl er Linkshänder war.

Das alles hat Kai Sichtermann schon in seiner Autobiographie aufgeschrieben. Er könnte das jetzt auch einfach wiederholen, aber er lässt sich Zeit. Sucht noch einmal nach den richtigen Worten. Taucht noch einmal ein in die Vergangenheit, in das Wasser der Schlei, bevor er von ihr erzählt. Denkt noch einmal darüber nach. Über das Gymnasium oder die Scheidung der Eltern, über die Mutter, eine lebenslustige Künstlerin, oder den Vater, den Juristen. »Wie sollte das gut gehen? Ein Jurist und eine Künstlerin!« Oder über die Musikschule und die Trompete, auf der er kaum einen Ton herausbrachte…. –

Immer wieder muss er grinsen oder lächeln während des Erinnerns, obwohl es keine einfache Kindheit war. Doch hoffnungslos war sie nie, es gab immer Träume und Lichtblicke: die Ferien und »das gemütliche Häuschen in Angeln, direkt an der Schlei«, die sie die »kleine Tochter der Ostsee« nannten - diesen weit ins Land greifenden Meeresarm, in dem das Wasser warm und nicht mehr so salzig war, und wo sie schon vor dem Frühstück hineinsprangen. Es gab Auguste, das Ruderboot, mit dem er in See stach und als Zehnjähriger bei der Rettungsaktion eines auf Sand gelaufenen Segelbootes helfen musste. Das Gänsehüten mit dem Nachbarsjungen, die Donald Duck-Hefte, Regale voll, die Abende am Lagerfeuer und die ersten Mädchen, die das Herz höher schlagen ließen. Und Opa Hansen, der ihn stets mit einem langgezogenen »Moooiiiin« begrüßte, »quer durch die Tonleiter, fast schon eine halbe Sinfonie!« Und die erste Gitarre und den Traum, mit ihr einmal auf der Bühne zu stehen. Nicht viel mehr als eine vage Hoffnung damals. Doch ohne sie wäre sein Leben anders verlaufen.



1967: Meine erste Band

Die Kindheit war schnell vorüber und es kam »einer der bedeutendsten Tage« in seinem Leben, ein Tag im August 1969: Kai war reif fürs Militär, stieg zu seiner Schwester Barbara und Jens in einen grauen VW-Käfer und flüchtete nach Berlin, wo sich Jens und Barbara schon seit einiger Zeit in der Theaterszene engagierten.

Die beiden wohnten auf zwei Zimmern in der Admiralstraße und hatten einen Schlafplatz für Kai, aber weil der kleine Bruder ständig durch das Berliner Zimmer laufen musste, das Schlaf- und Wohnzimmer des jungen Paares zugleich war, ging das nicht lange gut. Kai sollte sich nach einer eigenen Wohnung umsehen. Als Kai aber ständig mit Hoffmanns Comic Teater, für das Rio Reiser gerade die Musik schrieb, in irgendwelchen Wohnungen oder Kneipen abhing und sich um nichts kümmerte, sagte die große Schwester: »Wenn du nicht suchst, dann suchen eben wir!«

Sie fanden ein winziges Zimmer bei einem Studenten in der Görlitzer Straße, einer lichtlosen Sackgasse im Schatten der Mauer. »Der Typ hörte den ganzen Tag nur Stones. Irgendwann hab ich gefragt: Sag mal, hast du nicht noch was anderes? Und der sagt nur: »Brauchen wir doch gar nicht!« Kai grinst. Oder lächelt.

Er zog wieder aus, schlief meistens in der Fabriketage in der Oranienstraße, wo die Truppe vom Comic Teater Quartier bezogen hatte und wo immer eine Matratze frei war. Oder er ging ins Café Kaputt, wo es drei Matratzen gab und wo »Lanrue auch öfter schlief. Da brauchte man nicht mal was zu bestellen und konnte sich einfach hinlegen. 24 Stunden am Tag.« Berlin war wunderbar. Das einzige, was fehlte, war die kleine Tochter der Ostsee.

Kai, Rio und dessen Freund Lanrue, der inzwischen auch in Berlin angekommen war, saßen jetzt öfter zusammen, und Kai, der immer noch diese vage Hoffnung hatte, einmal mit seiner Gitarre auf der Bühne zu stehen, konnte nicht Nein sagen, als Rio ihm einen Bass umhängte und sagte: »Wir brauchen einen Bassisten. Wir wollen eine Single aufnehmen.« - »Ich kann aber nur Lagerfeuerklampfe!«, sagte Kai. Rio hörte gar nicht hin. Wahrscheinlich kannte er bessere Gitarristen, aber er wollte Kai. Kai grinst oder lächelt und hebt die Schultern: »John Lennon wurde mal gefragt, wer eigentlich der bessere Schlagzeuger gewesen sei: Ringo oder Pete Best? Lennon überlegte und sagte: Ringo war der bessere Beatle.«

Und Kai passte zu den Scherben. Kai hatte nicht das Bedürfnis, sich in den Vordergrund zu spielen. Vorne standen Rio und Lanrue. Sie schrieben die Texte. Sie komponierten. Und sie waren gut. »Es gab eine kreative Spannung zwischen den beiden. Ein Dritter wäre zu viel gewesen. Ich war zufrieden, wenn ich einen guten Basslauf finden konnte.«

Tatsächlich gibt es im ganzen musikalischen Kosmos rund um Rio Reiser und die Scherben nur einen einzigen Titel von Kai Sichtermann: »Vage Sehnsucht«. Der Text beginnt melancholisch wie sein Leben, »ich steh im Regen und werde ganz nass, ich hab was vergessen und weiß nicht mehr was, komm misch‘ die Karten, die Nacht hört nicht auf, worauf soll‘n wir warten, alles nimmt seinen Lauf…«

Kais Lauf begann, als Rio ihm den Bass umhängte und mit seiner Gitarre den Hit von den Four Tops anstimmte: »I can´t help myself«. Den hatte damals noch jeder im Ohr. Um dazu den Bass zu spielen, brauchte man keine Noten. Und schon vier Monate nach der Flucht stand Kai mit Rio und Lanrue in den Hansa Studios in der Köthener Straße, wo später auch David Bowie und Iggy Pop standen, und nahm eine Single für Ariola auf. Der Titel der B-Seite hätte auch von Heino oder Roberto Blanco stammen können: Baby Baby. Aber die A-Seite wies bereits über den deutschen Schlagerhorizont hinaus: Feierabend.

Doch die Platte wurde nie gepresst, weil Peter Meisel, der Produzent, unsicher war, »ob die Stimme von Rio das Publikum erreichen würde!« So hat Kai Sichtermann es in Erinnerung. Andere haben andere Erinnerungen. Sicher ist, dass Rios Stimme wenig später ganz Deutschland erreichte und zur Stimme des Widerstandes wurde, zum Sprachrohr der Hausbesetzer. Niemand traf den Nerv der Zeit besser als er. Und so stand Kai Sichtermann dann 1970 auf der Bühne des Love & Peace Festivals auf Fehmarn und sang: Macht kaputt, was Euch kaputt macht! Er hätte hinter die Bühne gehen können, als Hendrix spielte, aber er »war wieder mal zu schüchtern. Und vorne im Publikum war es sowieso besser, da konnte ich in aller Ruhe zuhören. Hendrix war genial.« Er lächelt: »Das war sein letzter Auftritt.«

Fehmarn machte die Berliner Band berühmt, und so wie aus den Rolling Stones »die Stones« wurden, so wurden aus Ton Steine Scherben irgendwann »die Scherben«. Und aus Kais leiser Hoffnung war tatsächlich Wirklichkeit geworden, trotz falscher Trompetentöne.

Die Scherben haben sich ins kollektive Berliner Gedächtnis graviert, noch heute singt das Publikum mit, wenn Kai Sichtermann mit seinen Freunden die Lieder von damals spielt. »Jetzt stehen da schon drei Generationen, und sogar die Enkelkinder kennen die Texte!« Obwohl die Zeit der Hausbesetzungen und der Rebellion längst vorbei ist.

Weil sich im Grunde nichts geändert hat. Weil schon wieder Krieg ist! Weil es schon wieder keine Wohnungen gibt. Weil sich so viele Hoffnungen von damals noch immer nicht verwirklicht haben. Es gibt Leute, die sagen, die Auftritte heute seien besser als die von damals. Damals war es zu laut, die übersteuerten Gitarren, das Schlagzeug, die Unruhe im Publikum. Heute, nur mit Bass, Gitarre und Cajon, geht kein Wort verloren. »Rio schrieb tolle Texte, er brachte es immer auf den Punkt, in knappen Sätzen, ohne Sentimentalität. Der konnte sich ans Klavier setzen und einfach lossingen! Das tat er oft, im Café Kaputt da stand ja ein Klavier. Der brauchte eigentlich gar keinen Bass und keinen Gitarristen.«

Dennoch waren es die Scherben, die seine Worte verbreiteten. Sie traten im Fernsehen auf, sie liefen im Radio, obwohl sie längst schon zum politischen Widerstand gerhörten. Die Scheiben der Scherben fehlten in keinem WG-Regal, sie hatten ihren Platz neben Marx und Engels. Gemeinsam mit Fans besetzten sie das Bethanien, die Konzerte wurden zu Protestaktionen, ständig gab es Schlägereien und Ärger mit der Polizei. Sie waren ins Visier der westdeutschen Staatssicherheit geraten. »Ich erinnere mich, dass wir vergessen hatten, die Telefonrechnung zu bezahlen für unsere Achtzimmerwohnung am Tempelhofer Ufer. Und die war ja immer ziemlich hoch gewesen. Aber unser Telefon wurde einfach nicht abgeschaltet! Wir konnten immer weiter telefonieren. Da war klar, dass wir abgehört wurden.«

Tatsächlich solidarisierten sich die Scherben zunehmend mit ihren Zuhörern, die immer radikaler wurden. Schon 1970 hatte Rio in einer Art Manifest geschrieben: »Wir haben von unserem Publikum gelernt…. Lieder sind zum Mitsingen da…. Ein Lied hat Schlagkraft, wenn es viele Leute mitsingen können… Musik ist eine Waffe…« Kai grinst nicht, wenn er sagt: »Wir haben tatsächlich daran gedacht, die Gitarren gegen Waffen zu tauschen. Wir haben es nicht gemacht – Gott sei Dank.«

Und dann war plötzlich alles vorbei! Mitte der Achtziger waren die Scherben ein Scherbenhaufen. Sie lösten sich auf, dachten noch ein paar Mal darüber nach, sich wieder zusammenzutun, aber Lanrue meinte dazu immer nur: »Wir sind doch nicht die Who!« – Die britische Rockband hatte sich so oft getrennt und wieder zusammengetan, bis die Presse sich darüber lustig machte.

Rio Reiser sang alleine weiter. Kai stellte den Bass in die Ecke und ging nach Düsseldorf, um als Mädchen für Alles in einer Elektrofirma zu arbeiten. »Kleiderschränke voller Kabel, riesige Schaltkästen! Ich machte die Buchhaltung und so´n Kram.« Und um die Ecke wohnten die Toten Hosen, aber die Bühne war für Kai wieder in weite Ferne gerückt. »Einmal, im Supermarkt, stand vor mir an der Kasse Campino mit ´ner Packung Toilettenpapier. Ich hab mich nicht getraut, ihn anzusprechen.«

Dann kreuzte eine Wahrsagerin seinen Lebensweg, las in seinen Sternen und kam zu dem Schluss, dass er weg müsse aus Düsseldorf, und zwar schnell! Kai ging zurück nach Berlin, und da war sie noch, die legendäre Scherbenfamily, diese Clique, die sich um die Musiker gebildet hatte. Kai stieg wieder auf die Bühne, zusammen mit Funky, der schon 1974 hinter dem Schlagzeug der Scherben gesessen hatte. Nur Lanrue dachte immer noch an The Who.

Jedes Jahr im August geht Kai Sichtermann an Bord der Spree Blick, zusammen mit Funky und anderen Freunden der Band. Dann schippern sie den Landwehrkanal entlang und singen die Lieder, die nicht älter werden, spielen und erzählen den drei Generationen noch einmal die Geschichte der Scherben, kommen vorbei an der 8-Zimmerwohnung am Tempelhofer Ufer, fahren von der Zossener Brücke bis zum Halleschen Tor, wo sie Mensch Meier singen, und weiter bis Runter zum Hafen, zum Osthafen. An die kleine Tochter der Ostsee fährt die Spree Blick nicht, obwohl das Meer unbedingt dazugehört zu Kai Sichtermann. Schon Jacob Möllgaard, sein Urgroßvater, war ein stadtbekannter Fischhändler und verkaufte die Kieler Sprotten bis ins Ausland.

Vor ein paar Jahren hat Sichtermann ein Lied von Hildegard Kneef aufgenommen. »Das musste sein!« Es ist ein Lied von der See: Gib mir noch einmal den Strand meiner Kindheit, mit Muscheln und Bernstein auf trockenem Weiß. Gib mir den salzigen Wind meiner Ostsee, das Jammern der Möwe, die hoffnungsvoll kreist.

»Kai an der Schlei« - Ölbild der Mutter






So ist es, das Leben, eskortiert von vager Hoffnung und einer leisen Sehnsucht. Manchmal fragt man Kai Sichtermann, was er als nächstes vorhabe. Er überlegt nicht lange, das Lächeln kommt sofort. »Ich werde ab und zu mit Funky auf die Bühne gehen, das macht Spaß und bringt ein bisschen Geld. Wir Künstler haben ja keine große Rente. Und dann werde ich mich auf meinen gemütlichen Lebensabend vorbereiten. Wir haben uns vor ein paar Tagen eine kleine Wohnung eingerichtet, Sema und ich, meine wunderbare Frau. Direkt an der kleinen Tochter der Ostsee, mit Blick aufs Wasser. Da sitze ich dann am Fenster, wenn die Sonne scheint, und schaue hinaus.«





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