Juni 2024 - Ausgabe 260
Geschichten & Geschichte
Hermann Ganswindt von Werner von Westhafen |
Die Geschichte eines großen Erfinders Ein halbes Jahr lang hatte Ganswindt Klavierunterricht genommen und schien nun endlich reif genug für die große Bühne. Er soll Chopin und Mozart gefühlvoll gespielt haben wie große Pianisten, und das Publikum habe auch stets brav applaudiert. Aber sowohl ihm als auch den Berlinern auf den hölzernen Sesseln des Konzerthauses ging es eher um den Pausenfüller als um die musikalische Unterhaltung: die Vorführung eines Luftschiffs. Jahrelang hatte Ganswindt versucht, Wissenschaft, Politik und Militär von seinen Theorien zu überzeugen, doch alle hielten ihn für einen Phantasten. Das Ministerium schrieb: »Ihre Idee, mit einem Fahrzeug innerhalb von 48 Stunden nach dem Planeten Mars hin- und zurück fliegen zu wollen, kann das Kriegsministerium unmöglich in den Bereich ernsthafter Erwägungen ziehen.« Und doch war es dieser Mann gewesen, der das erste Mal ein Flugobjekt mittels eines Motors für ein oder zwei Minuten und für ein oder zwei Meter von der Erdoberfläche abheben ließ. 1901, zwei Jahre, bevor das erste Motorflugzeug abhob. Hermann Ganswindts »Hebeluftschraubenflugzeug« war im Prinzip ein fertiger Hubschrauber. 1891 ließ er zwischen Chopins Etüden auf der Bühne der Philharmonie die ersten Versuchsmodelle abheben, die daraufhin die Berliner Jahrmärkte eroberten und als »fliegende Maikäfer« bekannt wurden. Von den Einkünften aus seinen Auftritten und Spielzeugverkäufen pachtete er ein Seegrundstück in Schöneberg, auf dem er eine Badeanstalt und eine Radbahn einrichtete und wo neugierige Berliner für eine Mark Eintritt die Erfindungen Ganswindts bestaunen konnten. Darunter waren bahnbrechende Erfindungen wie eine Flaschenspülmaschine, ein Tretmotor oder ein Drahtachsenlager. Geradezu genial war das erste Fahrrad mit Freilauf, eine Idee, die ihn schon als Schüler beschäftigt hatte. Bis zur Erfindung seines Leerlaufs hatten Radfahrer auch bergab stets mitkurbeln oder die Beine abspreizen müssen. Bereits der Vater, der im ostpreußischen Seeburg eine Mühle betrieb, hatte die Kraft des Windes nicht nur zum Getreidemahlen genutzt, sondern neben dem Windrad eine technische Versuchswerkstatt eingerichtet und Maschinen konstruiert. Hermann eiferte dem Vater nach und zeichnete schon mit 13 Jahren die ersten Entwürfe für ein »Weltenfahrzeug«, bei der eine Trägerrakete die Raumfähre bis an den Rand der Atmosphäre bringen sollte. Hermann studierte Jura und Physik in Wien, Leipzig und Berlin. Doch den Studenten beschäftigten zu viele Ideen, weshalb er den Vorlesungen so oft fern blieb, bis man ihn exmatrikulierte. Die beachtenswerte Idee seines Weltenfahrzeuges, die der Student 1881 - drei Jahrzehnte, bevor Hermann Oberth, der berühmte »Vater der Raumfahrt«, sein erstes Buch über Raketen veröffentlichte - in einer Physiklesung in Berlin vorstellte, schien dem Professor offensichtlich zu phantas-tisch. Auch als Ganswindt das Raketenfahrzeug 1893 in einem Vortrag in der Berliner Philharmonie einem breiteren Publikum vorstellte, konnte er keine Finanziers für die Umsetzung seiner Idee finden, und das Patentamt in der Gitschiner Straße verwehrte ihm sogar die Patentnummer. Doch nach den vielen erfolgreichen Startversuchen seiner »fliegenden Maikäfer« auf den Jahrmärkten und anderer kleiner Flugmaschinen auf seinem Schöneberger Versuchsgelände schritt Hermann Ganswindt im Juli 1901 zur großen Tat und bewies allen, dass er mit seinen Berechnungen recht hatte. Sein Hebeluftschraubenflugzeug, das zur Stabilisierung wie heutige Hubschrauber bereits mit einer kleinen Hilfsluftschraube am Heck ausgestattet war, schaffte es mit zwei Personen an Bord für »einige Sekunden« in der Luft zu bleiben, bis die »Auslaufbewegungen der Luftschraube den Apparat wieder sanft zu Boden schweben ließen.« Damit war das erste, motorbetriebene Fluggerät der Menschheit gestartet. Die Gebrüder Skladanowski hatten das Ereignis mit einer Filmkamera festgehalten und ihren Streifen am 5. November 1901 im Wintergarten an der Potsdamer Straße gezeigt. Dennoch wurde die Glaubwürdigkeit des Experimentes angezweifelt, denn die Luftmaschine war mittels eines Seiles abgesichert. Skeptiker und Neider warfen Ganswindt Betrug vor, für die Berliner Zeitungen wurde der Erfinder nun zu einem lukrativen Dauerthema. Ein Jahr nach dem Aufstieg des Hubschraubers folgte der Abstieg seines Erfinders, der des »fortgesetzten Betruges« angeklagt und inhaftiert wurde. Am Mariendorfer Weg wurden die Badeanstalt und das Versuchsgelände verriegelt, die Geschäftsbücher beschlagnahmt und über das Vermögen seiner Firma der Konkurs verhängt. |