Juni 2024 - Ausgabe 260
Mühlenhaupts Erinnerungen
Was die anderen über unser Haus erzählen. von Kurt Mühlenhaupt |
Gegenüber wohnte später Frau Lipka, und eine Treppe höher wohnte Frau Herta Kazandra-Schilling. Sie hatte sich im alten Film- atelier breitgemacht. Um sich in der schweren Zeit mit Fleisch zu versorgen, hielt die Kazandra 37 Kaninchen. Dann hatte sie noch eine Ziege, die Milch gab, und fünf Hühner sorgten für frische Eier. Alle ihre Viecher wohnten auf dem Dachboden. Herr Regen erzählte mir: Wer die 120 Stufen nach oben stieg, konnte, wenn er den Kopf durch die Dachluke steckte, bis an den Landwehrkanal gucken. Damals standen noch keine hohen Häuser davor. Ich habe mir mal alte Zeitungen besorgt, da stand, daß im Laufe des Jahres 1958 zwölf Leichen aus dem Kanal geborgen wurden. (...) Fräulein Hasenbank erzählte: Während des Zweiten Weltkrieges brachte die Hausnummer 13 den Bewohnern Glück. Die Häuser der Blücherstraße 1-12 und auch die 14 verschwanden im Bombenhagel, um uns herum sind viele Menschen umgekommen, auch in den gegenüber stehenden Häusern. Die Nummer 13 stand auf einmal ganz allein da. Wir konnten weit in die Stadt sehen. Erst in den Fünfzigerjahren wurden die Lücken wieder geschlossen. (...) Zum Schluss Herr Warncke: Heute bin ich pensioniert. Vor 30 Jahren, als all das passierte, war ich Kriminalinspektor. Im Vorderhaus wohnte damals der Geschäftsmann Zorn. Dem wurde vor der Haustür das Auto gestohlen. Der Wachtmeister wohnte im linken Seitenflügel. Dem gelang es, den Dieb zu stellen. Der Dieb entpuppte sich als Bewohner des hinteren Quergebäudes. Ich als Vernehmungsbeamter, im Vorderhaus wohnend, hatte den Fall zu bearbeiten. Die Verteidigung übernahm ein über mir wohnender Rechtsanwalt. Das Opfer, der Autotyp, der Polizist, ein Kriminalbeamter und der Verteidiger Doktor Krause wohnten alle zur gleichen Zeit unter diesem Dach. Und nun war plötzlich das ganze Haus untereinander verfeindet und keiner grüßte den anderen mehr. |