Juni 2024 - Ausgabe 260
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Das Reisebüro hinterm Gartentürchen von Michael Unfried |
Eigentlich verbrachte Tilo Lamm die Jahre in Kiew, um an der Universität seine Doktorarbeit zu schreiben und Ingenieur zu werden. Aber zurück in Deutschland stieß er in der taz unter der Rubrik Projekte auf eine Kleinanzeige mit etwa folgendem Wortlaut: »Suchen für interessante und unkonventionelle Tätigkeit ab sofort mehrere Mitarbeiter, die mindestens zwei Jahre in der Sowjetunion gelebt haben und Russisch sprechen.« Wenig später begegnete er einem ungarischen Studenten, der auf der Suche nach Reiseleitern war. Inzwischen sind fast 40 Jahre vergangen. An dem hölzernen Jägerzaun des Vorgartens in der Fichtestraße hängt ein Schwarzes Brett mit handgeschriebenen Reisetipps und einem Prospekthalter für die Kataloge der biss Aktivreisen. Die Tafel erinnert deutlich an vergangene Schulzeiten und zieht die Blicke der Passanten auf sich. »Die bleiben alle stehen und gucken – aber reinkommen tut niemand.« Vielleicht, weil das niedrige Gartentürchen zu privat, zu unprofessionell wirkt. Man befürchtet, gleich im Wohnzimmer hinterm Garten zu stehen. Doch hinter dem Grünland befindet sich kein Privatwohnsitz, sondern ein Reisebüro mit Weltkarte an der Wand, Fotografien mongolischer Hirten, Prospekten und Computern. Nur die Fotografien von Kreuzfahrtschiffen und die Logos von TUI und Lufthansa fehlen. Denn Tilo Lamm fährt nicht dahin, wo die anderen hinfahren. Daraufhin beantragte der leidenschaftliche Ungar beim Berliner Informations- und StudentenService, dessen erklärtes Ziel »politische Bildung mit Biss« war, Fördergelder für Bildungsreisen nach Ungarn und in andere für Westberliner politisch korrekte Nachbarländer. Nun brauchte man Reiseleiter, die Russisch sprachen. Politisch korrekt, wie man war, inserierte man in der taz. Auch Tilo war politisch korrekt. Also saß er eines Tages mit zehn Studenten in der Transsibirischen Eisenbahn, zusammen mit Russen in Pantoffeln und Jogginghosen, die Tee kochten und Wodka tranken als wäre der Zug ihr Wohnzimmer. Am Baikalsee hatte es minus zwanzig Grad, und die deutsche Reisegruppe hatte kein Hotel buchen können. Nur mit Glück fanden sie ein Quartier in einer privaten Zweizimmerwohnung in Irkutsk. Ganz so abenteuerlich ist das Reisen heute nicht mehr, aber noch immer klingen die Namen der biss-Reiseziele nach fernen Welten: Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan, Buchara, das Altai-Gebirge, der Muztagh Ata an der Seidenstraße - lauter die Phantasie anregende Vokabeln. Bis heute ist für Reisende aus der Fichtestraße All-Inclusive ein Fremdwort, Bus Shuttles zum Hotel fehlen im Wortschatz. Einziges Eingeständnis an den Fortschritt ist das Flugzeug, ansonsten bewegt man sich zu Fuß, auf den Rücken der Pferde oder im Fahrradsattel. Die Nächte verbringt man in kleinen Pensionen, Jurten und Zelten, man schläft in einfachen Betten oder auf dem Boden, und für die Morgentoiletten stehen oft »nur einfache Waschgelegenheiten und Plumpsklos« zur Verfügung, gezeltet wird in der Natur mit »Spatentoilette.« Es gibt eben keine Luxushotels auf den Vulkanen Kamtschatkas und keinen Bus in die Fan-Darja-Schlucht, keinen Sessellift auf den 3597 Meter hohen Gipfel des Ajdahag; es gibt kein Bad im Wasserfall ohne Fußwanderung und keine eine Woche im Sonderangebot, sondern mindestens zwei, meistens aber drei abenteuerliche Wochen nicht nur an anderem Ort, sondern in anderer Zeit. »Als ich zum ersten Mal mit einer Gruppe von Radfahrern in Tadschikistan war, dachten die Einheimischen, wir wären arme Leute, weil wir nicht mit dem Mercedes kamen. Wir haben schon immer viele Radreisen gemacht. Wandern wollte niemand. Das war zu altmodisch.« Später kamen die Pferde dazu. Zum Beispiel im Kaukasus. »Das war noch ziemlich abenteuerlich damals. Wir waren oben bei den Samen, ein wildes Volk, das sich strikt weigerte, die Berge zu verlassen. Deshalb schickten ihnen die Sowjets ständig russische Reisegruppen. Dadurch hatten die Bergvölker ein Einkommen und verhielten sich ruhig.» Aber als dann die Sowjetunion zusammenbrach, blieben die Urlauber plötzlich aus. Dafür kamen Europäer. Also kramten die Samen ihre Kalaschnikows aus und begaben sich auf Raubzug. »Eines Morgens brachen wir mit den Pferden zu einem Gletscher auf, es war ein schöner Tag, die Frauen auf den Wiesen holten gerade das Heu ein und winkten. Als wir zurückkamen, herrschte Totenstille. Und dann flogen uns auch schon die Kugeln um die Ohren. Wie im Western. Unsere einheimischen Führer verhandelten, und als wir abends im Dorf ankamen, erzählte man uns, wir seien die ersten, die keinen Wegezoll hätten zahlen müssen.« Tilo Lamm lacht. Vielleicht wäre er auch als Ingenieur in der Welt herumgekommen. Nicht unbedingt auf dem Fahrrad- oder dem Pferdesattel, nicht unbedingt bis nach Kamtschatka. Dort ist er gern und oft gewesen. Aber dann kam Corona. Und jetzt ist Krieg. Die Reisen sind weniger geworden, aber sie sind noch unterwegs, in kleinen Gruppen, irgendwo zwischen den Karpaten und Kamtschatka, Asien und Osteuropa, die Reisegruppen aus der Fichtestraße, auf der Suche nach den letzten exotischen Ländern abseits der TUI-Routen. |