Kreuzberger Chronik
Februar 2024 - Ausgabe 256

Kreuzberger
Mudassar Aga

Ich will die Menschen zusammenbringen


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von Peer Sebold

Titelfoto: Holger Groß

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Am Anfang, als Mudassar Aga zwanzig war, »war das alles noch nicht so deutlich, da war mir noch nicht klar, in welche Richtung das gehen soll. Aber jetzt, nach zwanzig Jahren in Berlin, kann ich immerhin schon sagen: Ich habe ein Ziel, und ich arbeite daran, dieses Ziel zu erreichen!«

Mudassar Aga ist der Besitzer eines kleinen, räucherstäbchen-geschwängerten Indienladens in Kreuzberg mit einer Kulisse aus 1001 Nacht, all diesem romantischen Ambiente aus Silberschmuck und Mondsteinen, Kissen, Polstern, Decken, Lampen, Messinggefäßen, Wimpelketten über den Türen und bunten Gewändern an Kleiderständern. Dem Interieur einer Welt, die auch in Indien längst schon ins Reich der Märchen und Sagen gehört. Zumindest in modernen Städten wie Delhi oder Bangalore, der Millionenstadt, die im Ruf steht, das »asiatische Silicon Valley« zu sein. Wenn heute Menschen aus Bangalore nach Berlin kommen, dann sind es Informatiker. Kaum einer käme mehr auf die Idee, in Berlin einen Schmuckladen oder ein Restaurant zu eröffnen. »Die Welt verändert sich rasant, überall. Aber Bangalore ist viel schneller als Berlin. Ein Viertel wie Kreuzberg ist gemütlich im Vergleich zu Bangalore!«

Mudassar Aga kennt Bangalore noch aus einer Zeit, als es noch etwas gemütlicher war. Als abends regelmäßig der Strom abgeschaltet wurde und alle Kinder jubelten und hinaus auf die kurze Straße rannten. »Das war jedes Mal ein großes Fest, wenn der Strom ausfiel und wir kein Licht mehr hatten für die Hausaufgaben. Alle waren plötzlich wieder draußen und spielten Verstecken im Dunkeln, zwei, drei Stunden lang, zwanzig Kinder. Es gab zwei Autos bei uns im Viertel, auch Mopeds und Fahrräder gab es noch nicht viele.« Und die Eltern kamen dann irgendwann auch aus den Häusern und standen da, redeten miteinander, stellten Stühle auf die Straße und tranken Tee. Es war total entspannt.«

Jetzt hat Mudu einen kleinen Laden in der Bergmannstraße. Aber ein Indienladen in Berlin ist nicht viel, ist noch kein Lebensziel. Und vielleicht hätte er das auch nie gefunden, wenn da nicht diese Straße seiner Kindheit gewesen wäre. Denn als er nach Deutschland kam, wunderte er sich, wie anders Europa ist: »Die Europäer trauen anderen Menschen nicht so schnell. Sie denken immer gleich daran, was schieflaufen könnte. Wir Inder sind optimistischer und immer neugierig auf Fremdes und Neues. Wir gehen viel schneller auf andere zu!« Weil Mudu die Straße seiner Kindheit vermisst, diese Sommerabende, an denen das Licht ausfiel, hat er sich in den Kopf gesetzt, nicht nur Kissen und Ringe, sondern ein Stück indischer Seele zu importieren. Das ist sein Ziel. »Ich will die Menschen zusammenbringen.«

Mudu mit seiner Schwester und Schulfreundinnen


Die Straße lag in einem Viertel, das sie früher »Agas Garden« nannten. Und Aga, das war Mudassars Urgroßvater. Er hatte dort, wo heute die vielen Häuser stehen, große Gärten und Äcker. Der Name Aga war in aller Munde, und der kleine Mudu war überall immer nur »Agas Enkel«. Mudus Vornamen kannten die wenigsten.

Sein Urgroßvater hätte ein reicher Mann werden können, aber er neigte dazu, alles an die Armen zu verschenken. Irgendwo im Koran stand: Helfe Menschen, die auch anderen Menschen helfen. »Das hat sich mein Urgroßvater offensichtlich zu Herzen genommen. Und danach hat er gelebt.« Zum Leidwesen seiner Verwandtschaft. Denn am Ende besaß er nur noch ein bescheidenes Haus.

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In diesem Haus wuchs Mudu auf. Er vermisst es, obwohl es eigentlich viel zu klein gewesen war für die große Familie. In den wenigen Zimmern wohnten die Großeltern, die Eltern, zwei Onkel und deren Frauen. Und sieben quicklebendige Kinder. »Es war ziemlich eng. Aber wir waren zusammen. Das war gut.«

Nur in den Sommerferien wurde es ruhiger im Haus des Urgroßvaters. Da fuhr Mudu mit seiner Familie ins Dorf der Mutter, in ein Haus im Grünen, und spielte mit den Eichhörnchen, kletterte auf Bäume und stahl die kleinen Vögel aus den Nestern, für die er Käfige baute und die er fütterte und zähmte. Wenn sie groß waren, ließ er sie wieder fliegen. Einer der Papageien aber kam noch jahrelang zurück und saß auf der Terrasse der Großmutter. Es gefiel ihm bei den Menschen. Das beeindruckte den kleinen Mudu.

Kürzlich hat er ein Haus entdeckt, etwa 300 Kilometer südlich von Goa und ein ganzes Stück näher am Meer als Bangalore. Die Luftaufnahme zeigt ein großes Anwesen in Coorg, inmitten einer immergrünen Hügellandschaft und von Nebeln durchzogenen Wäldern. Dorthin möchte Mudu sich im nächsten Sommer zurückziehen. Die erste Woche möchte er mit seiner Frau und den Kindern ganz alleine sein, und dann alle Freunde einladen. Leute dort zusammenbringen. An einem Ort so weit weg von allem, dass es sein könnte, dass auch dort hin und wieder der Strom ausfällt.

»Die Menschen haben sich verändert. Sie denken zu viel an sich. Das ist nicht gut für eine Gesellschaft«, sagt Mudu. Er fühlt sich »verpflichtet«, etwas zu tun. »Ich möchte die Erfahrungen aus zwanzig Jahren in Bangalore und zwanzig Jahren in Berlin weitergeben.« Zu irgendetwas müssen diese Jahre doch gut gewesen sein. Es muss sich doch ein bisschen Weisheit angesammelt haben auf dem Grund eines vierzig Jahre alten Lebens.

»Ich glaube, mein Urgroßvater spielt eine sehr wichtige Rolle in meinem Leben. Aber ich musste erst nach Deutschland kommen, um zu begreifen, was für ein Mensch das war.«, sagt Mudu. Er bewundert diesen Mann. Dennoch will Mudu kein Meister, kein Guru oder Philosoph sein oder werden, er hat profanes »business management studiert, also Betriebswirtschaft. Kaufen und verkaufen.« Das war schon auf dem Schulhof seine Lieblingsbeschäftigung, kaufen und verkaufen. »Ich habe billig Schokolade eingekauft und in den Pausen teuer verkauft. Wir hatten ja nicht viel Geld damals in unserer Familie, Taschengeld gab es keines.«

Auch später musste Mudu, um das Studium zu finanzieren, irgendwie zu Geld kommen. Also fuhr er mit Freunden nach Thailand, kaufte Motorräder, schraubte sie auseinander, packte sie in kleine Pakete und schickte sie nach Indien. »Dort bauten wir die Teile wieder zusammen und verkauften sie wieder. Das war ziemlich mühselig, aber es lohnte sich. Der Tageslohn lag damals bei 200 Rupies, das waren vielleicht 2 Euro oder so!«

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Mudu hätte mit seinen Freunden wahrscheinlich einen florierenden Motorradhandel aufbauen können, aber dann sah er Mariem, die Tochter von Kazim Ali, einem entfernten Verwandten, der vor Jahren als Ingenieur nach Deutschland gegangen war und dort sein Glück gemacht hatte. Mudu hatte nie an Europa gedacht, Mudu schwärmte von Neuseeland oder Australien, von Wäldern, Seen, Flüssen, Tieren. Aber dann kam Mariem aus Berlin zu Besuch. Heute ist Mudu Vater dreier Töchter. Und Besitzer eines kleinen Ladens in der Bergmann-straße in Kreuzberg.

»Eigentlich wollte ich weiter studieren und habe an der Volkshochschule erst mal Deutsch gelernt. Das hat Spaß gemacht. Inder sind sprachbegabt, jeder Inder spricht zwei, drei Sprachen.« Mudu spricht Hindi, Kanada, Telugu, Englisch und Deutsch.« Und ein bisschen Italienisch und Spanisch. Er war viel unterwegs in den ersten Jahren nach seiner Ankunft in Berlin, immer »mit dem Rucksack, so wie früher die Hippies«, die ihm von den Sechzigern und den Siebzigern in Indien vorschwärmten.

Aber Mudu wusste noch nicht, wohin die Reise gehen sollte. Er war jetzt zwanzig und irrte durch Berlin wie ein Tourist, besuchte die Hotspots, fuhr zur Friedrichstraße, zum Alexanderplatz, zum Brandenburger Tor, zum Hackeschen Markt. Als er die Preise für indischen Silberschmuck, für die Räucherwaren, die indischen Schals und die bunten Lämpchen in den Shoppingmalls und auf den Weihnachtsmärkten und Flohmärkten sah, staunte der ehemalige Schokoladenverkäufer. Das war eine Gewinnspanne, von der ehemalige Motorradhändler nur träumen konnten.


Mudu gab das Studieren auf und meldete ein Reisegewerbe an. Kaufen und Verkaufen. »Und alle haben mir Geld geliehen, damit ich anfangen kann. Mir wurde immer geholfen in meinem Leben, auch hier in Berlin. Ich bin verpflichtet, etwas zurückzugeben.« Von seinem Startkapital - 1500 Euro - kaufte er Silberschmuck und zog los. Es dauerte nicht lange, da hatte er Freunde überall, bei denen er schlafen konnte, in Rom, Barcelona, München. »Tagsüber bin ich durch die Straßen gelaufen und in jeden Laden rein und habe denen meinen Schmuck gezeigt. Die meisten haben gekauft.«

Irgendwann kam der Handlungsreisende in die Kreuzberger Bergmannstraße und betrat das Toku Satu. Marianne hatte den Laden schon seit 35 Jahren und »hing an ihm wie an einem Kind.« Trotzdem war es an der Zeit, sich zu trennen. Mudu schien der Richtige zu sein, um das Erbe anzutreten. Einer, der aus Überzeugung handelte. Der mehr wollte als nur Geld verdienen. Der die indische Kultur vertrat. Der auch einmal einen Ring verschenken konnte, wenn er sah, dass der junge Mann oder die junge Frau kein Geld hatten. So hatte auch Marianne das gemacht. Und so war auch sein Urgroßvater.

Mudu hat seinen Namen über den Laden geschrieben. Agas Own. Wie das Haus in Brandenburg einmal heißen soll, das er gekauft hat, weiß er noch nicht. Im nächsten Sommer soll es fertig sein. Ein großes Haus im Grünen. Ein Haus, in dem Menschen zusammenkommen können. In dem sie Musik machen, Workshops veranstalten, miteinander reden. Von wo aus er seinen Töchtern die Natur zeigen kann, Tiere, Pflanzen, Landschaften, Eichhörnchen. So wie auch er einst im Dorf seiner Mutter die Natur kennenlernte. Auch wenn die Brandenburger Natur anders aussieht als die in Indien.

Von den Brandenburgern hatte er viel gehört und gelesen, aber er ist auf sie mit indischem Optimismus zugegangen. »Ich hatte mal auf einem Markt bei Potsdam einen Stand. Mit einem der Kunden kam ich in ein längeres Gespräch. Irgendwann zog der das Hemd hoch und zeigte mir das Hakenkreuz auf seiner Brust. Aber wir hatten das beste Gespräch! Zum Schluss meinte der, er habe noch nie so viel mit einem Ausländer geredet, und er würde jetzt einiges anders sehen.« Mudu grinst. Er freut sich über solche kleinen Erfolge. »Die Europäer sind einfach zu misstrauisch. Die lassen sich nervös machen durch die Medien, und dann reden sie nicht mehr miteinander. Aber man muss auf die Leute zugehen.« Damit sie miteinander leben zu können so wie im Haus von Mir Aga Saab.

Mudu hat nur ein kleines Geschäft, aber Großes vor. Er hat ein Ziel: Er will die Menschen zusammenbringen. Er könnte es schaffen.





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