Kreuzberger Chronik
Februar 2024 - Ausgabe 256

Geschichten & Geschichte

Spaziergänge in die Vergangenheit (2):
Die alte Belle Alliance



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von Werner von Westhafen

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Womöglich war es Müdigkeit, die Theodor Fontane dazu bewog, in seinem Spätwerk einen versöhnlicheren Ton anzuschlagen, wenn er sich an die Jahre in der ehemaligen Tempelhofer Vorstadt erinnerte. Armgard und Woldemar, das junge Paar in Fontanes Roman Stechlin ist in »eine ganz in der Nähe von Woldemars Kaserne gelegene« und hübsch eingerichtete Wohnung gezogen. »Das war am Belle-Alliance-Platz«, dem heutigen Mehringplatz. Wirklich heimisch ist das Paar in Fontanes 1897 und somit erst kurz vor seinem Tod erschienenem Roman dort aber nicht geworden. Am Ende des kurzen Abschnittes gesteht Armgard: »Ich sehne mich einigermaßen nach Schloß Stechlin.«

Ganz so freiwillig haben die Fontanes, die so wie das fiktive Paar am Belle-Alliance-Platz gewohnt haben, ihre dortige Wohnung 30 Jahre zuvor nicht verlassen. Emilie, Theodors Ehefrau, wäre gerne wohnen geblieben und schreibt 1862 aus der ländlichen Sommerfrische an den Gatten in Berlin, der dabei ist, den Umzug vorzubereiten: »Übrigens Recht hat er gewiß nicht, uns so quasi herauszuwerfen. Die Leute müssen ja denken, wir haben die Miethe schlecht bezahlt!«

Die um den guten Ruf besorgte Emilie hatte recht, sich über die unerwartete Kündigung zu echauffieren. Kurt Pomplun von der Berliner Morgenpost, der auf seinen gedanklichen Spaziergängen durchs historische Berlin auf die Adresse Fontanes in der Tempelhofer Straße 52 gestoßen war - der späteren Belle-Alliance-Straße und dem heutigen Mehringdamm Nummer 3 - , fand heraus, dass die Fontanes mit ihren beiden Kindern erst vier Jahre zuvor in den noch feuchten Neubau am Ufer des Landwehrkanals eingezogen waren und ihn vier Jahre lang »trockengewohnt« hatten. Damit hatte sich der Wert der anfangs eher unwirtlichen Wohnung deutlich erhöht, zumal die Tempelhofer Vorstadt inzwischen zu Berlin gehörte.

Pomplun schreibt, dass der Eigentümer, ein ehemaliger Holzhändler namens Degebrodt, der das Haus von seinem Onkel geerbt hatte, keinen guten Ruf besaß, und dass das junge Ehepaar Fontane »viel Zopp« mit ihm hatte, insbesondere der Kinder des Ehepaares wegen. Anders als sein Onkel und Vorbesitzer, der sich als »freundlicher Kinderwirt« einen schon »legendären Namen« gemacht hatte, besaß »sein unfreundlicher Neffe offensichtlich kein Herz für größere Familien, die wie die Fontanes in bedrängten wirtschaftlichen Verhältnissen wohnten.« Als 1860 auch noch Martha, das dritte Kind der Dichterfamilie, das Licht der Welt erblickte und mit lauten Schreien seine Lunge testete, dürfte das dem ums Haus besorgten Degebrodt zu viel gewesen sein. Er kündigte dem Ehepaar und durfte sich darüber freuen, die Wohnung nun teurer zu vermieten zu können.

Die Abneigung gegen Kinder war unter den neuen Hausbesitzern weit verbreitet. Warnende Schilder, die das Spielen in Höfen und Treppenhäusern verboten, waren die Regel. Auch der Maurermeister Wilhelm Riehmer, der das Degebrodt-Haus errichtet hatte, sah Kinder in seinen Bauwerken nicht gern. Als Riehmer später auf der anderen Straßenseite der Belle Alliance und ein paar hundert Meter weiter südlich ein sich über ein ganzes Viertel erstreckendes Ensemble aus herrschaftlichen Wohnhäusern errichtete, vermietete er, wie Kurt Pomplun schreibt, »die 5-7 Zimmerwohnungen seines Hofgartens nur an kinderlose Ehepaare – obwohl er selbst Vater von neun Kindern war.«

Fontane schreibt darüber nichts. Er sinniert stattdessen über die Frau seines Romanhelden: »Die Frühjahrsparaden nahmen ihren Anfang und gleich danach auch die Wettrennen, an denen Armgard voller Interesse teilnahm. Aber ihre Freude daran war doch geringer, als sie geglaubt hatte.« Die Reize der Paradestraße mit ihren Militärkapellen und der zinnenbewehrten Dragonerkaserne, auch nicht der schöne Hermann, Kapellmeister der Gardedragoner und Schwarm der Berliner Frauenwelt, konnten Armgard die Gegend schmackhaft machen.

Pomplun schlendert weiter die Belle-Alliance hinauf bis zum Telefunkenhaus, wo in den Siebzigern des 20. Jahrhunderts unter dem Dach eine Disko namens Dachluke eröffnete, und wo die Fontanes im Jardin oder im Salon Belle-Alliance 100 Jahre zuvor im Erdgeschoss das Tanzbein hätten schwingen können. Nachdem die Musik in den alten Tanzsälen verstummt war, eröffnete 1869 an gleicher Stelle das Belle-Alliance-Theater. Neben den in Vorstadttheatern üblichen Possen nahm man sich dort sogar anspruchsvoller Klassiker an und spielte Schillers Räuber, Wilhelm Tell oder König Lear. »Im Sommer aber wurde nach Berliner Sitte auf der Bühne des durch 6000 Gasflammen in brillant feenhafter Pracht erstrahlenden Gartens« hinterm Haus Konzerte gegeben und »Spezialitäten« vorgestellt.

1893 dirigierte dort einer der berühmtesten Berliner, Paul Lincke, doch 1912 wird der Theatersaal abgerissen. Kurt Pomplun resümiert: »Die Zeiten waren längst dahin, als der Begründer und langjährige Besitzer des Theaters, August Wolf, anlässlich eines Jubiläums vom Polizeipräsidenten ein Glückwunschschreiben erhielt, in welchem der Fall als der Erwähnung würdig constatiert wurde, daß Herr Direktor Wolf innerhalb dieser 20 Jahre nie eine Vermahnung noch eine Strafe erhalten hat - als Wirth sowohl wie als Theaterdirektor - also in Wahrheit ein Musterbürger gewesen ist

Vielleicht, so würde ein moderner Intendant anmerken, gäbe es das Theater heute noch, hätte der brave Direktor Wolf wenigstens einmal in seinem Leben einen ordentlichen Skandal inszeniert.


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