Kreuzberger Chronik
Februar 2024 - Ausgabe 256

Helmut

Erste Begegnung


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von Hans W. Korfmann

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Es war im Heidelberger Krug. Er saß hinten in der Ecke an einem runden Tisch mit vielen lauten Leuten und winkte mir zu. Wir hatten am Abend zuvor ein paar Biere zusammen getrunken. Auch jetzt stand in der Mitte des Tisches eine Bastion von Biergläsern. Ulle Bormann saß da, Kurt Mühlenhaupt, Alf Trenk und einige andere, die ich alle nicht kannte. »Hier sitzt sozusagen die Creme de la Creme Kreuzbergs!«, sagte er. Der ganze Tisch raunte, kommentierte, protestierte, lachte.

Irgendwann setzte sich Helmut ans Klavier, das neben dem Tisch an der Wand stand, und spielte. Das geschah wohl öfter an solchen Abenden, niemand schenkte dem Pianisten besondere Aufmerksamkeit. Alle redeten weiter, trotz Chopin, Mozart oder Schubert. Doch als er wieder am Tisch saß, kam die Rede auf das Klavier.

Aus dem Gespräch entnahm ich, dass Helmut Klavierbauer oder Klavierstimmer war. Sie nannten ihn Klavierhelmut. Und weil er seine Werkstatt in der Zossener Straße aufgeben musste, hatte er seine Klaviere als Leihgabe in den Lieblingskneipen untergestellt. Wo sie hin und wieder der Unterhaltung der Gäste dienten.

Helmut konnte zu jedem seiner Klaviere oder Flügel eine Geschichte erzählen. Auch zu dem unscheinbaren Klavier an der Wand des Heidelberger Kruges. Es sei eines der schwersten, das er in den Händen gehabt habe. »Versuch mal, das anzuheben!«, sagte er zu Kurt, der als Trödler auch schon öfter mit Klavieren zu tun gehabt hatte. Kurt berief sich auf sein fortgeschrittenes Alter. Ich, mit Abstand der Jüngste am Tisch, hielt meine Stunde für gekommen. Ich hatte Kohlen geschleppt, Hundertkilosäcke in Eisenbahnwaggons geworfen, Möbeltransporte aller Art hinter mir, und nun sollte ich nicht einmal so ein kleines Klavier anheben können.

Alle am Tisch wetteten mit, es war wie in Bayern oder Österreich. Als ich mich erheben wollte, gab mir der kleine Mann mit den Klavieren noch einen guten Rat mit: »Bitte vorsichtig anheben, nicht ruckartig. Sonst tust du dir weh.«

Dann schritt ich, von den Blicken aller am Tisch begleitet, zur Tat. Ich stellte mich mit dem Rücken an die schmale Seite, griff mit beiden Händen darunter, hielt den Rücken gerade, ging in die Hocke und - hob an. Im selben Moment jagte wie ein Blitz der Schmerz durch meinen Körper. Keinen Zentimeter hatte ich das verdammte Stück angehoben. Und der Tisch grölte vor Vergnügen. Ich zahlte die Runde und schlich drei Wochen lang wie ein alter Mann durchs Viertel. Aber ich hatte viele neue Freunde gewonnen.


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