Kreuzberger Chronik
April 2024 - Ausgabe 258

Kreuzberger
Judith Karpen

Die Nulpe war unser Zuhause


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Holger Groß

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Sie geht nur noch selten aus. Die Kneipen, in denen sie früher die Abende verbrachte, gibt es nicht mehr. Auch von den Freunden sind viele nicht mehr da. Manchmal geht sie in den Heidelberger Krug, wo es noch ein bisschen so ist wie früher, wo es nach Bier riecht und nach Tabak.

Das Aroma der Kneipenluft begleitet Judith seit ihrer Kindheit. Judy war die Tochter eines stadtbekannten Kneipiers, der gut befreundet war mit Ben Witter, dem Kolumnisten der ZEIT. Die beiden unterhielten ganze Tische mit ihren Reden. »Mein Vater war eine Persönlichkeit! Er hatte mehrere Gaststätten und ein Restaurantschiff auf der Alster.« In den Zwanzigern war der Hamburger sogar in der Jockey-Bar in Berlin, bis die Nazis kamen. »Nach dem Krieg hat er die sogar noch einmal aufgemacht. Aber die Leute mit Geld waren alle noch im Ausland. Und das Bier kostete da schon fünf Mark! Also ging er zurück nach Hamburg.«

Zuletzt besaß der Vater einen Imbiss am Anleger. »Einen stadt-bekannten Imbiss! Das war vorher so ein kleiner Krämerladen, aber irgendwann kam Aldi. Und von 50 Gramm Mettwurst und einem Fischbrötchen konnte die alte Frau natürlich nicht mehr leben. Also gab sie ihr Lädchen auf und mein Vater baute es zum Imbiss um.« Ende der Sechziger war der Imbiss am Strandweg ein beliebtes Ziel für Sonntagsausflüge, Otto Waalkes und andere Bekannte standen gern mit der Bratwurst in der Hand beim Vater und plauderten. Und immer dazwischen die hübsche Judy, zehn, vierzehn, sechzehn Jahre alt.

»Ich wurde verwöhnt wie eine Prinzessin. Und auch so gekleidet. Mein Vater bestand darauf, dass wir - also meine Mutter und ich – immer weiße Faltenröcke trugen. Nicht nur auf den Sonntagsspaziergängen. Und weil mein Vater schon etwas älter war, sagten die Leute immer: Da haben Sie aber wirklich zwei wunderschöne Töchter!«

Solange Judy noch klein war, konnte sie das alles genießen. »Ich hatte eine schöne Kindheit.« Aber irgendwann wurde aus dem Kind ein Teenager, der seinen eigenen Weg gehen wollte. Der mal weg wollte aus Hamburg. Und die Sechzigerjahre waren voll mit verlockenden Angeboten, voller Verführungen und Gefahren. Das spürten auch Judiths Eltern, und wenn abends im Fernseher von den Studentenrevolten in Berlin berichtet wurde, rief der Vater mit warnender Stimme vom Wohnzimmer herüber: »Judy, komm her, schau dir das mal an: Da sind sie wieder, deine linken Spinner aus Berlin!« Doch Judy war nicht mehr aufzuhalten.

Der Vater hätte es gerne gesehen, wenn die Tochter in seine Fußstapfen getreten wäre. Als Judy sechzehn war, fingen sie an zu drängeln. Sie sollte den Beruf »von der Pike auf lernen« und eine Hotelfachschule in der Schweiz besuchen. Aber die Tochter war widerspenstig. Eigensinnig. Dickköpfig. Sie protestierte: »Wann fragt mich eigentlich mal einer, was ich will!«

Allerdings wusste sie selbst noch nicht so recht, was sie wollte. Bis sie auf einem ihrer Spaziergänge vor der Senatorenvilla am Rondell, - »ein wahnsinniges Anwesen, das angeblich irgend so ein Drogendealer gekauft und an Prominente vermietet hatte. Da wohnten der Sohn vom Axel Springer und solche Leute...« - einen jungen Mann aus Berlin kennenlernte, der in einer WG wohnte. »Wahnsinn! In einer WG!« Und weil Judy so eine hübsche junge Frau war, sagte Achim: »Komm mich doch mal besuchen!« Judy notierte: »Großbeerenstraße 77, Kreuzberg.«

Aber erst einmal suchte sie sich einen Ferienjob auf Sylt. Hauptsache weg von der Alster und den Alten. Dann fuhr sie zum Open-Air -Konzert nach Fehmarn, wo Hendrix seinen letzten und die Scherben ihren ersten großen Auftritt hatten. »Überall Matsch und Dreck, und am Ende brannte die Bühne, nur weil die sangen: »Macht kaputt, was Euch kaputt macht!« Als die Tochter dann auch noch als Stewardess auf der Prinz Hamlet anheuern wollte, die zwischen Hamburg und England hin- und herschipperte, verweigerte der Vater der Minderjährigen seine Unterschrift. Da knallte es.

Am selben Nachmittag packte die Tochter heimlich ihre Tasche - »einen Rucksack wollte ich nicht, das war mir zu spießig! Eine Jeans, zwei T-Shirts... was man halt so braucht...«, und verließ das Haus, ohne sich zu verabschieden, im Ohr dieses Lied von Freddy Quinn: »Als sie erwachte, war ich schon auf dem Meer.« Judy allerdings fuhr nicht aufs Meer, sie fuhr zum Flughafen, ging zum Schalter und fragte: »Wohin fliegt die nächste Maschine?« - »Berlin, in 45 Minuten.« Judy sagte: »Die nehme ich. One way!«

So landete Judy an einem kühlen Novemberabend des Jahres 1970 in Tempelhof, stieg in den 19er, fuhr unter den rostigen Yorckbrücken hindurch - »das war schon ziemlich beeindruckend« - und stieg da aus, wo auch all die anderen jungen Leute ausstiegen: Mansteinstraße. Dann lief sie die Straße entlang, die auch all die anderen jungen Leute entlangliefen, und stand wenig später bei Leydicke und trank Obstlikör. Als Touristen kamen, ging sie mit den jungen Leuten weiter zum Roten Punkt, wo sie blieb, bis der Morgen graute.

Dann zog sie ihr Adressbuch hervor und suchte nach Achim aus der Großbeerenstraße. Achim wohnte mit drei Freunden zusammen. »Du hast Glück, wir haben gerade ein Zimmer frei. Carola hat sich vor ein paar Tagen aufgehängt!« - Das fand Judy »zwar etwas makaber, aber die Wohnung war riesig, fünf Zimmer plus Mädchenkammer. Hochherrschaftlich, wie man eben so wohnt in Riehmers Hofgarten!«

Die vier Jungs verliebten sich natürlich alle in die hübsche Judy, »aber die hatten ja noch Eierschalen hinter den Ohren! Das war nichts für mich. Die gingen auch in ganz andere Kneipen.« Also zog sie in eine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung am Mehringdamm, »gleich neben dem Bastelladen, aber immerhin schon mit Innentoilette und eigener Dusche. Ganz Kreuzberg kam bei mir zum Duschen!« Am Mehringdamm blieb sie ein paar Jahre, verliebte sich das erste Mal so richtig und begann im Britzer Krankenhaus eine Ausbildung als Krankenpflegerin. Den Beruf übte sie zeitlebens aus, und weil ihr nach so vielen Berufsjahren der Ruf anhaftete, auch mit schwierigen Leuten gut zurechtzukommen, sagten die Kolleginnen eines Tages zu ihr: »Du, da ist wieder so ein schwieriger Fall, der ist was für dich!«

Der schwierige Fall war die Nachtigall von Ramersdorf, die seit Jahren singend durch die Berliner Kneipen lief und mit der Rosa von Praunheim 1984 einen abendfüllenden Kinofilm drehte, über den Helmut Karasek im Spiegel nach recht viel Nörgelei resümierte: »Aber wenn die Nachtigall den Mund aufmacht, ist der Film umwerfend.«

Inzwischen war der Sänger alt und vergessen. Eine Verehrerin hatte eine kleine Wohnung für ihn angemietet, um ihm das Pflegeheim zu ersparen. Aber täglich um ihn kümmern wollte sie sich nicht. Das sollte Judy erledigen. Einkaufen, Waschen, Putzen, gegen die Einsamkeit anreden. Jeden Tag. Mehrere Stunden lang. Mehrere Jahre lang.

Manchmal kochte sie auch für ihn. Doch eine Gastwirtin, wie sich das der Vater gewünscht hatte, war aus der Tochter nicht geworden. Obwohl es in den ersten Jahren in Berlin eine Kneipe gab, zu der sie eine ganz besondere Beziehung hatte. »Eines Abends - da wohnte ich noch bei den vier Jungs im Hofgarten - laufe ich durch die Straße und sehe ein Plakat: Eröffnung der Galerie im Kaffeehaus Nulpe. Yorckstraße 77. Das war 1972!« Judy weiß es noch genau. Denn die Nulpe wurde so etwas wie der Mittelpunkt ihres Lebens. »Alle, die ich kannte, hatte ich in der Nulpe kennengelernt. Die Nulpe war unser Zuhause«.

Auch den Mann ihres Lebens - einen Musiker, mit dem sie nun bald vierzig Jahre lang verheiratet ist - hat sie in der Nulpe kennengelernt. Im Flur ihrer Wohnung hängt ein Bild von Rudi Lesser, dem vielleicht treuesten Stammgast des Lokals: »Meiner Judith herzlichst zugeeignet«. Lesser, der Maler und Schachspieler, der schon an der Tür lauerte und jeden abfing, der Schachspielen konnte, der immer ein paar Wiener in der Tasche hatte für seinen Hund... - »und dann guckten immer alle so sehnsüchtig nach den Würstchen. Geld für Bier hatten sie ja genug, aber für die Würstchen reichte es dann nicht mehr!«

Die Nulpe war für Viele ein Zuhause. Otto Sanders saß dort, wenn er von der Schaubühne kam, Oskar Huth, Kurt Mühlenhaupt, Karl Heinz Grage. Oder Walli, der so oft bei Judy im Trödelladen in der Körtestraße vorbeischaute. Zur Biografie einer echten Kreuzbergerin gehören immer auch ein Trödelladen oder ein Stand auf dem Flohmarkt.

Judy und Walli waren ein stadtbekanntes Pärchen, er siebzig, sie zwanzig. Wo sie auch hinkamen, in den Dschungel, den Zwiebelfisch, die Stiege, überall winkte man sie durch, egal wie lang die Schlange war. »Walli war ja ziemlich auffällig, also ziemlich tuntig, und wer uns nicht kannte, fragte: Seid ihr ein Paar? Wohnt ihr zusammen? Dann habe ich gesagt: Nee, ich hol ihn nur am Wochenende aus der Anstalt! - Also ist das dein Vater? Dann schaltete sich Walli ein und sagte: Nee, Juddi ist nur der Fehltritt meiner Tante!«

Auch Hellmut Kotschenreuther verkehrte in der Nulpe, der Maler und Autor, und der Mann von Dagmar, Judys bester Freundin. Vor dem Tresen der Nulpe hatten die beiden Frauen gesessen und sich sofort verstanden. Auch als Dagmar die Nulpe kaufte und zur Wirtin wurde, saßen sie jeden Abend zusammen. Und als Dagmars Tochter zur Welt kam, wurde Judith zur Patentante.

Und dann rief eines Tages Herr Friedenstab an, der Anwalt, den alle kannten, weil er die Kreuzberger Trödelhändler und Kneipenwirte vertrat. Ein Mann für die Kleinen Leute. Judith Karpen hat seine Stimme heute noch im Ohr, wie er zu ihr sagt, sie solle doch bitte mal in seine Kanzlei kommen, es sei wichtig. Und dann stand sie da und Friedenstab sagte: »Judy, du hast die Nulpe geerbt!«

Man hatte Dagmar tot in ihrem Lokal gefunden. Sie hatte viel Geld investiert, einen langen Tresen gebaut, wahrscheinlich dreißig neue Stromkreise installiert und den Boden mit Hirnholz belegt. Die Nulpe war nicht irgendeine Kneipe, sie war ein Zuhause, nicht nur für Judith, auch für andere. Sechs Monate vor ihrem Tod hatte sie mit sauberer Handschrift ihr Testament hinterlegt und ihrer Freundin das Lokal vermacht. Sogar den Sohn der Putzfrau hatte sie bedacht. Ihre letzten Sätze waren: »Anstatt drei Hand voll frischer Erde auf meinen Sarg zu werfen, soll an meinem Grab jeder drei Schluck Rotwein oder drei Schluck Ouzo zu sich nehmen. Und rote Rosen sind mir lieber als Kränze.«

So kam es, dass Judy, die Tochter des Gastronomen, sich tatsächlich als Wirtin versuchte. Ein Jahr lang. »Obwohl das ja genau das war, was ich am wenigsten wollte! Ich bin doch in einer Kneipe aufgewachsen....« Aber es lief nicht. Ihr Platz war auf der anderen Seite der Theke. Und als irgendwann Theo und der Wahre Heino, der vorher den Scheißladen in der Großbeerenstraße gemacht hatte, Interesse bekundeten, verkaufte sie das Lokal schnell wieder. So wurde aus der legendären Nulpe das Enzian. Heute, sagt Judy und verdreht die Augen ein wenig, »ist da ein Frisör. Da, wo einst unser Zuhause war.«

Judy geht nur noch selten aus. Die Kneipen von früher gibt es nicht mehr. Manchmal geht sie in den Heidelberger Krug, da sitzen öfter auch Petra und Franziska. Aber oft kommt sie herein und da sind nur noch fremde Gesichter. »Ich bin halt so ne alte Fossilie«, sagt sie. Sie setzt sich an einen Tisch, an dem schon andere sitzen. Es dauert nicht lange, da beginnt sie zu erzählen. Von früher. Von den Kneipen. Von der Nulpe. Und alle am Tisch – ganz egal, worüber sie gerade noch sprachen – sind plötzlich still und hören zu.




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