Kreuzberger Chronik
April 2024 - Ausgabe 258

Geschichten & Geschichte

Der vergessene Vater


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von Eckhard Siepmann

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David und Friedrich Gilly

Wer dem Verkehrs- und Baulärm der nördlichen Zossener Straße entkommen ist und in den Friedhof am Halleschen Tor einbiegt, steht schon nach wenigen Schritten vor einem Grabstein, der in seiner ästhetischen Qualität den Besucher geradezu überfällt. Lapidar sind die Auskünfte, die er gibt: David Gilly, Architekt, geboren 1748, gestorben 1808. Punkt. Nein, sogar ganz ohne Punkt. Auf der Rückseite des Steins geht es weiter: »Hier ruht der Architekt David Gilly, der durch seine tiefe Kunstlehre und seinen eifrigen Fleiß die deutsche Baukunst zu neuem Leben erweckte.«

Den Architekten Schinkel kennt jeder. Er ist der, der die Neue Wache Unter den Linden geschaffen hat und das Bühnenbild für die Zauberflöte mit den vielen Sternen. Gilly kennt kaum jemand. Nur Architekten bekommen glänzende Augen. Gilly ist eine Legende, eine doppelte!

David Gilly verlebte Kindheit und Pubertät im ländlichen Raum, und dieser Umstand sollte auf vertrackte Weise entscheidend sein für seine Fähigkeit, die Baukunst zu erneuern. Sein Handwerkszeug lernte er nicht auf der Akademie, er studierte nicht eifrig die Architekturgeschichte und –ästhetik, sondern er beschäftigte sich in jungen Jahren mit dem Entwurf einfacher und kostengünstiger Häuser und Scheunen, mit dem Ausbau von Wasserleitungen auf dem Land und typisierten Wohnungs- und Stallbauten. Seine sparsame Praxis erregte die Aufmerksamkeit der zuständigen preußischen Beamten, die seiner Ökonomie gegenüber sehr aufgeschlossen waren.

1788 wurde er nach Berlin geholt und zum Geheimen Oberbaurat ernannt. Es waren just die auf dem Land erworbenen Qualitäten, die Gilly dazu verhalfen, die Architektur Preußens zu prägen. Das Phänomen David Gilly kann - gewissenlos vereinfacht- so skizziert werden: Als er nach Berlin kam, fand er als herrschenden Stil in der Baukunst den Formüberschwang und die Ornamentseligkeit des Spätbarock und Rokoko vor. Als er diese Formensprache durch die Mühle von auf dem Land erlernter Einfachheit und Zweckbezogenheit drehte, waren Grundzüge des Klassizismus geboren, die schon bald überall in Berlin und Preußen sichtbar werden sollten.

Wie kam es zu dieser Rückkehr in die Antike? Noch um die Mitte des Jahres 79 n. C. hatte niemand in den Dörfern am Vesuv eine Ahnung davon, welche Überraschung ihr Berg bereithielt - er hatte seine eruptive Art ein halbes Jahrtausend lang geheim gehalten. Die Hirten hüteten ihre Herden, die Fischer fischten ihre Fische und die Bauern schnitten den Ziegen die Köpfe ab, wenn es an der Zeit war. Aber bald trauten sie ihren Ohren und Augen nicht: Der Berg öffnete sich, krachend schoß eine riesenhafte Fontäne von heißer Asche und Lavagestein bis in die Stratosphäre empor. Pompeji wurde begraben.

Herculaneum war erst in der Nacht dran. Vier Feuerströme mit einer Temperatur von rund 400 Grad rasten nacheinander auf das Dorf zu und begruben nicht nur Mann und Maus, sondern auch die Skulpturen und Mosaike, mit denen sich die reicheren Bürger zu umgeben pflegten.

Im 18. Jahrhundert begannen die Ausgrabungen. Was sie zu Tage förderten – Skelette, Ruinen, Statuen, Bilder - erregte nicht nur die Historikerzunft, sondern sollte auch die Kultur in Europa nachhaltig verändern. Ein Klassik-Fieber erfasste Literaten, Maler und Architekten, die sich im Zuge der Aufklärung nach einer von Vernunft und Ordnung geprägten Gesellschaft sehnten. Der Klassizismus war geboren, und der machte sich für ein halbes Jahrhundert in ganz Europa in den Künsten wie auch in der Architektur breit. Hoch über Kreuzberg thront er bis heute in den antikisch idealisierten Genien, die in Schinkels Denkmal an die Orte des Sieges über Napoleon erinnern.

Davids nachhaltigster Beitrag zum Klassizismus bestand jedoch nicht aus Stein und Basalt, sondern aus Fleisch und Blut. Als er 22- jährig die gleichalte Schönheit mit dem klingenden Namen Friederike Ziegenspeck ehelichte, wurde schon bald ein Sohn geboren, den sie Friedrich nannten. David nahm den Junior sofort unter seine Fittiche, ließ ihn mitreisen und mitarbeiten und schickte ihn in Berlin in die Akademie der Künste, Klasse für Architektur.

1796 sollte auf dem Leipziger Platz ein großes Denkmal für den 10 Jahre zuvor verstorbenen Alten Fritz errichtet werden. Friedrich reichte einen herrlichen Entwurf ein, der die Fachwelt ins Mark traf und Gilly jr. schlagartig zum frühen Genie des preußischen Klassizismus machte. Als der pubertäre Schinkel das Bild in einer Ausstellung der Akademie sah, haute es ihn um, er entschloss sich, Architekt, Künstler zu werden – und Schüler des jungen Gilly, der zum Professor an der von seinem Vater mitgegründeten Bauakademie ernannt worden war.

Kaum war das neue Jahrhundert angebrochen, da erlitt David Schicksalsschläge, von denen er sich nicht mehr erholte. Im Alter von 28 Jahren starb am 3. August 1800 sein geliebter Sohn Friedrich in Karlsbad an Tuberkulose, 1802 folgte ihm die Tochter Minna in den Tod. Als 1804 auch das Leben von Gattin Friederike endete, heiratete er ihre Schwester Juliane Ziegenspeck. Der Napoleon unterlegene preußische Staat konnte nach 1806 seine Beamten nicht mehr bezahlen – Gilly starb 1808 sechzigjährig krank, depressiv und verarmt.

»Eiserne Mädchen« nannte Schinkel die klassizistischen weiblichen Genien in seinem neogotischen Denkmal für den Sieg Preußens über Napoleon. Möge der Blick der gusseisernen Mädchen vom Kreuzberg herab Gilly auf seiner letzten Reise begleiten.

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