September 2023 - Ausgabe 252
Strassen, Häuser, Höfe
Die Katzbachstraße 9 von Alwin Singer |
Die Zeiten, als das Foto des vornehmen Hauses in der Katzbachstraße entstand, waren ganz andere Zeiten. So viele Menschen würde heutzutage kein Fotograf, der ein Gebäude fotografieren möchte, mehr aufs Bild bekommen. Heute gehen die Menschen beiseite, wenn ein Handy auf eine Häuserfassade gerichtet wird, zufällig ins Bild laufende Personen werden wegretuschiert und Männer, die ihre Kameras auf spielende Kinder richten, werden umgehend der Pädophilie verdächtigt. 1910 lief man auf die Straße, sobald ein Fotograf sein hölzernes Stativ aufstellte. Sobald er das schwarze Tuch über sich und seinen Kasten warf, lehnten die jungen Berliner bereits lässig in den Hauseingängen, während sich die Älteren elegant auf ihre Spazierstöcke stützten, die Kinder sich auf die steinernen Treppenstufen hockten und ausnahmsweise einmal stillhielten, damit das Bild auch scharf wurde und sie deutlich zu erkennen waren. Hausherren der Beletage traten in ihren Gilets auf die Balkone, Frauen richteten Frisur und Bluse und riefen den Schoßhund, um sich möglichst dekorativ und mit Hündchen im weit geöffneten Fenster zu platzieren. Und die Ladenbesitzer aus den Erdgeschossen riefen ihr Personal zusammen, um vor den Schaufenstern Größe und Bedeutsamkeit ihres Geschäftes zu demonstrieren: Der stolze Apotheker Grundmann mit der Katzbach Drogerie ebenso wie Paul Schute von der Conditorei- Bäckerei und die Eierverkäuferin aus dem winzigen Lädchen nebenan. Alle wollten schnell noch mit aufs Bild, um ein Stückchen Unsterblichkeit zu erlangen. Wie sich die Zeiten ändern! Dort, wo einst Leute zur Miete wohnten, wohnen heute Besitzer. Doch schon damals dürften die Bewohner des Hauses an der alten Parademeile des Kaisers nicht die Ärmsten gewesen sein, immerhin traf sich in einer der Wohnungen des Hauses die Führungselite der Sozialialdemokratischen Partei Deutschlands, unter ihnen Ferdinand August Bebel, woran noch heute eine Gedenktafel an der Hauswand erinnert. Von hier aus ging der Blick hinüber zum Kreuzberg, wo sich einst schon Marx und Engels auf dem Rummel vergnügt hatten, mit denen Bebel einen regen Briefwechsel pflegte. Doch von den alten sozialistischen Ideen möchte von den heutigen Wohnungsbesitzern der Katzbachstraße 9 womöglich niemand mehr etwas hören, und würde Bebel, der gefeierte Urvater der SPD, der sich selbst als »Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung« bezeichnet hatte, der sich gegen Kriegskredite und für die Pariser Kommune aussprach, heute noch dort wohnen, so wäre er längst vom Verfassungsschutz verhaftet worden. Wie sich die Zeiten ändern: Dort, wo sich einst Apotheker um die Gesundheit und Politiker ums Allgemeinwohl der Berliner kümmerten, sorgt sich heute eine des Englischen mächtige Dame um die Schönheit ihrer vornehmlich weiblichen Kundschaft, obwohl sie ihre Frisierdienste im Erdgeschoss nicht nur den »Ladies«, sondern auch »Gentlemen und Kids« anbietet. Inner beauty - Hair & Make-Up Art beschreibt sie den kleinen Salon, in dem sich Kreuzberger Damen die Haare richten und ein perfektes Make Up für den wichtigen Abend auftragen lassen können. Die Fassade wird schließlich zunehmend bedeutungsvoller in dieser Welt! In dem kleinen Laden mit den täglich frischen Eiern verbirgt sich heute das Paulo Ventura Interaction Kunstzentrum, augenscheinlich die Galerie eines multitalentierten Malers, Fotografen und Theatermachers, der aus der Skalitzer Straße an den Kreuzberg gezogen ist. In den ehemaligen Auslagen des Bäckermeisters Schute, der die Nachbarschaft des frühen 20. Jahrhunderts und womöglich auch den berühmten Herrn Bebel mit Brötchen, Kuchen, Eis und Sahne versorgte und der laut Werbeslogan im Fenster den Junggesellen des Viertels sogar ein »Frühstück wie bei Muttern« offerierte, sind die Vorhänge stets zugezogen und lassen keinen Aufschluss darüber zu, was sich heute in der alten Backstube befindet. Wie sich die Zeiten ändern: Das Haus, in dem die SPD Ende des 19. Jahrhunderts Geschichte schrieb, ist heute eher bedeutungslos. Einmal nur noch, im Sommer 1980, tauchte es ein ins Licht des Blitzlichtgewitters der Fotografen. Auch damals traten neugierige Nachbarn ans Fenster, allerdings dieses Mal die Nachbarn aus den angrenzenden Hinterhäusern. Sie wollten den seltenen Gast auf dem Hinterhoffest sehen, den letzten großen Politiker der Sozialdemokraten: Willy Brandt. Er war gekommen, um dem Vater seiner Partei die Ehre zu erweisen, als das große, vom Krieg zerstörte Eckhaus an der Kreuzbergstraße restauriert und bezugsfertig wurde. Nur der nördliche Teil des historischen Eckgebäudes entlang der Katzbachstraße ist erhalten, Seitenflügel und Quergebäude wurden abgerissen, an die eindrucksvolle Gründerzeitfassade des viergeschossigen Altbaus mit seinen hohen Räumen schließt sich einer der schamlosesten Zweckbauten billigster Nachkriegsarchitektur an: Sechs dicht aneinandergedrängte Stockwerke mit rechteckigen Betonklötzen als Balkone und quadratischen Fenstern in der fäkalienfarbenen Rauputzfassade. Gerade noch erhalten blieb am äußersten Rand des Hauses der imposante Haupteingang mit den Säulen und dem einst noch voller Stolz über der Tür vermerkten Baujahr 1888. Ach, wie sich doch die Zeiten ändern. |