September 2023 - Ausgabe 252
Kreuzberger
Christoph Leib
von Hans W. Korfmann
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Neustadt an der Weinstraße war zu spießig. Langweilig. Da musste man ausbrechen. Um auszubrechen, schwang er sich aufs BMX-Rad, mit dem er durch die Wälder stürmte und über Hügel sprang. Kaum wurde das Snowboard erfunden, fuhr er in den Schwarzwald und stieg aufs Schneebrett um. Und weil der Feldberg nicht hoch genug und von April bis November schneefrei war, eroberte er die Straßen von Neustadt mit dem Skateboard. Christoph suchte die Geschwindigkeit, das Abenteuer, den Ansturm des Adrenalins. Aber irgendwann waren all diese Kinderspiele nicht mehr spannend genug. Und dann, 1988, fuhr der mittelmäßige Gymnasiast aus Neustadt mit der Klasse nach Berlin. Zufällig war gerade der 1. Mai, als sich Chris-toph und drei Freunde vom Rest der Klasse absetzten und zur Oranienstraße wanderten. »In dem Moment war klar: Da muss ich hin!« Die Altstadt an der Spree war besser als Neustadt an der Weinstraße. »Ich hab erst in Berlin angefangen zu leben!«, sagt der Skater. Als er Jahre später nach Berlin kam, war die ganze Stadt ein einziger Abenteuerspielplatz, eine riesige Buddelkiste. Berlin wurde komplett umgebaut, eine Stadt voller Bauzäune! Und was gab es Anziehenderes für junge Männer auf BMX-Rädern als ein abgeriegeltes Gelände! »Einmal sind wir mit dreißig anderen BMXern nachts in den Palast der Republik eingedrungen. Der war schon ausgeräumt und reif für den Abriss, aber drinnen lagen noch Teppiche, Geschirr stand herum, und halt riesige Säle, um da rumzukurven. Ich bin mit meinen Kumpels gerade im Kinosaal, da gehen die Sirenen los und aus den Lautsprechern die Aufforderung, uns zu ergeben. Wir sind dann in den Vorführraum geflüchtet, da standen noch die Projektoren, aber alles stockfinster. Zwei Stunden haben wir da drin ausgehalten, bis es wieder vollkommen still war. Dann sind wir rausgeschlichen.« Sie waren eine abenteuerlustige Truppe, die Skater, Mountainbiker, BMXer. Einer erzählte, es gebe ein Loch im Zaun der größten Baustelle Europas. Er meinte, man könne nach Feierabend am Potsdamer Platz in die Unterwelt absteigen, in der gerade die Röhren für die neuen U-Bahntunnel und Bahntrassen gelegt wurden. Wahrscheinlich war die größte Baustelle Europas aber auch die am besten abgesicherte Baustelle Europas. Dementsprechend gut waren sie vorbereitet, wussten genau, wo sie hinwollten und hatten sich einen Fluchtplan zurechtgelegt: Falls der Wachschutz sie entdecken sollte, wollten sie über die gerade entstehende ICE-Trasse in Richtung Südkreuz flüchten. Irgendwo in der Wildnis des Gleisdreiecks, schon in der Nähe der Yorckstraße, sollte der Tunnel wieder ans Licht führen. »Am meisten Schiss hatten wir vor den Wachhunden. Wenn die die losgelassen hätten, hätten wir ordentlich in die Pedalen treten müssen.« Schon beim Anblick des Loches im Zaun spürten die vier jungen Männer, wie ihnen das Adrenalin in den Kopf schoss. Sie zögerten noch einen Moment, dann schlüpften Christoph und Timo durch. Die anderen beiden blieben zurück, um Schmiere zu stehen. Sie stiegen, die Räder geschultert, die frisch zementierten Stufen hinab und standen irgendwann tatsächlich in der gigantischsten Pipeline Berlins, nur notdürftig beleuchtet von einer Kette kleiner Glühbirnen an der Wand, die in der Ferne des Tunnels verschwanden: In der kilometerlangen Zementröhre, durch die eines Tages der ICE rauschen würde. Jetzt aber würden erst einmal sie mit ihren kleinen Rädern hier durchrauschen. Als sie die richtige Stelle gefunden hatten, setzten sie sich und lauschten. Kein Laut war zu hören, nur das schier unendliche Echo jedes kleinsten Geräusches, das sie verursachten, und das sich durch den Tunnel scheinbar bis zum Ausgang wand. Dann schritten sie zur Tat. Christoph baute den Blitz auf und richtete ihn auf die Stelle, an der er den Radler für alle Ewigkeit festhalten wollte. Er brachte sich hinter der Kamera in Position, Timo gab dem Rad die Sporen und kurvte die Wand hinauf bis fast unter die Decke. Drei, vier Mal musste er absteigen, das Rad stürzte zurück auf den Betonboden, scheinbar ohrenbetäubender Lärm vervielfachte sich im Tunnel. Sie hielten inne, lauschten - aber nichts passierte. Zwei Stunden waren sie im Tunnel, und Christoph hielt alles fest mit seiner analogen Kamera, auf einem einzigen, schmalen und nur 36 Bilder archivierenden Film. Es wurde hell, als sich ihr Herzschlag wieder beruhigte und sie lachend in der Kneipe saßen. Das Bild der Wallrides in der Fullpipe unterm Potsdamer Platz erschien weltweit in verschiedensten Magazinen. Einige Jahre später wurde Timo Pritzel BMX-Weltmeister, reiste um den halben Globus, und Christoph Leib war sein ständiger Begleiter, fotografierte für Streetwear Labels und Modefirmen, Stern und Spiegel, und seine Modells waren Skater, Radfahrer, Montainbiker, Punker und Musiker. Immer die, denen das Leben eigentlich zu langweilig war, und die irgendwie ausbrechen wollten. »Ich bin da jetzt raus«, sagt er, wenn eines der Modelabels anruft und ihn zu einer Tour überreden möchte. Früher war er immer dabei, zwei, drei Wochen lang, Konzerte, Sportveranstaltungen, die Vans-Music-Tour über Helsinki, Paris, London, Amsterdam. Das hat Spaß gemacht, vor allem die Partys danach. »Aber jetzt brauche ich Zeit für meinen Sohn.« Christoph Leib hat lange genug darauf gewartet. »Es war nie Zeit für Familie. Ich habe auch nie die richtige Frau getroffen. Aber dann stand da eines Tages Jule, eine der beiden Frontfrauen von John Franco & The Hindus. Ich sollte mitspielen, aber ich hatte fünfzehn Jahre lang nur noch die Kamera in der Hand gehabt. Aber Jule war super. Und Jule ist immer noch super! Die macht einfach alles mit!« Also hängte er sich wieder die Gitarre um, tourte mit den Hindus durch die Berliner Clubs, spielte im Biergarten am Görli und bei der Fete de La Musique im winzigen Conni Island. Nur, weil ihnen der Kuchen dort so gut schmeckte. Neben den Hindus ist da noch Bowman, eine Combo aus lauter Familienvätern. Die müssen nicht mehr jede Nacht unterwegs sein. Auch wenn es Spaß macht, auf der Bühne zu stehen, wenn da sofort eine Resonanz ist. »Aber nach dem Auftritt ist auch alles ganz schnell wieder vorbei. Da ist mir das Studio lieber. Wir haben jetzt drei Singles bei Spotify, und ich freue mich, wenn Carlos das auch in vierzig Jahren noch hören kann«, sagt Christoph. Und fügt hinzu: »Vielleicht bin ich an dieser Stelle zu sehr Fotograf und zu wenig Musiker.« Obwohl auch die Musikergeschichte schon früh begann, auf einem Klassenausflug, als er und sein Freund auf die Idee kamen, eine Band zu gründen. Die anderen lachten sie aus, aber dann war Medium Delay alle drei Wochen mit Bild in der Zeitung. »Da lachte keiner mehr.« Aber das mit der Fotografie begann noch früher. Es begann mit der alten Voigtländer und dem Belichtungsmesser von Opa Franz. Der hatte ihm alles erklärt und ihm die Kamera in die Hand gedrückt. Der drehte wie im Kino das Licht aus und knipste den Diaprojektor an, und während alle anderen eingeschlafen waren, saß Christoph noch immer fasziniert in der Dunkelheit und sah Bilder fremder Länder. Später besuchte Opa Franz´ Enkel die Foto-AG, und der Kunstlehrer meinte, er müsse Kunst als Leistungskurs wählen. Christoph wandte ein, dass er nicht einmal einen runden Kreis hinbekäme, aber der Pädagoge bestand darauf: Er hätte ein Auge für Motive. Und dann irgendwann, als er schon am Ausbrechen war, kam der Besitzer der örtlichen Madison-Disko und fragte, ob er bei der Jubiläumsveranstaltung fotografieren könne. Das war sein erstes Honorar. Das Foto des glücklichen Gewinners eines VW-Madison landete im örtlichen Lokalblatt. Aber eigentlich begann das Leben erst in Berlin. Nach dem Zivildienst schrieb er sich an der Berliner Uni ein, hörte morgens Vorträge über Betriebswirtschaft und stand nachmittags auf dem Skateboard. In einem Jugendclub in 36 lernte er zwei Skater kennen, die ziemlich gut auf den Brettern standen. Christoph hatte die Kamera dabei. »Irgendwann rief mich eine Kreuzberger Modefirma an. Sam hätte ihnen meine Fotos gezeigt. Ob sie die haben könnten.« Christoph hatte keine Ahnung, was er verlangen sollte. Sie meinten, er könne ja mal vorbeikommen. Sie zahlten gut und er konnte sich dazu noch ein paar geile Klamotten aussuchen. Aber das beste aber war: Er bekam Aufträge. »Im Nachhinein ist mir klar geworden, wie oft da der Zufall zuhilfe kam. Erst der Opa, dann der Kunstlehrer, dann die Skater und die Radfahrer, und dann dieser Laden in der Fuldastraße mit den gebrauchten Kameras, ASA 90. Da hab ich mir meine erste Pentax MX gekauft.« Der Besitzer war ein leidenschaftlicher Fotograf und hatte hinten ein Labor. Nur Auserwählte durften da rein. Christoph gehörte dazu. »Wir hingen ständig in der Fuldastraße ab, Manfred war ein cooler Typ, leider ist er viel zu früh gestorben. Aber es gibt noch einen Film von ihm, 16 Millimeter, so eine Langzeitdoku über die Baustelle auf dem Potsdamer Platz, Titel: Achtzigtausend Shots.« Der Potsdamer Platz! Wenn Christoph Leib »Potsdamer Platz« sagt, schleicht sich eine Spur von Melancholie in die Erzählerstimme. Er fotografiert jetzt Bierkrüge und Bierbäuche, Pferde und Schafe. Verbotene Fotosessions gehören der Vergangenheit an, die Löcher in Bauzäunen sind selten geworden. Berlin ist auch nicht mehr, was es einmal war, Skater, Sprayer und Rock´n-Roller sind keine Staatsfeinde, sondern Touristenattraktionen. Beim letzten illegalen Set kam die Polizei ihm auch noch zu Hilfe, anstatt ihn in die Wanne zu stecken. »Obwohl das auch schon wieder irgendwie typisch für Berlin war!« Sie hatten sich eine schräge Betonwand am Technik-Museum ausgesucht und zwei Freestyle-Motocrossmaschinen auf dem Anhänger mitgebracht, die nicht für die Straße zugelassen werden. Busty Wolter, Star der qualmenden Zweiradszene, sollte an die Wand springen, Christoph alles fotografieren. Er baute auf, »Stativ, Kamera, Blitz und so weiter, und dann kamen zwei vom Ordnungsamt. So richtige Sheriffs! Wir würden hier auf öffentlichem Straßenland mit einem für den Straßenverkehr nicht zugelassenen Fahrzeug - und so weiter. Und dann wollte er unsere Daten. - Nö, von uns nicht. Ruf doch die Polizei! - Da sah man richtig, wie ihm die Halsschlagader anschwoll. Er ruft an und es kommen zwei Wachtmeister, schauen sich die Situation in aller Ruhe an und sagen zu mir: Jetzt erzähl mal, was hier los ist! Ich erkläre ihm das also, und dann geht er zum Stativ, schaut durch die Kamera und sagt: Die Perspektive gefällt mir. Habt ihr alles im Kasten? – Ne, ein Bild fehlt noch. – Dann macht mal, und danach haut ihr ab! - Und dann, mit einem kurzen Seitenblick auf die verdutzten Miene des Sheriffs vom Bezirksamt: Wenn das für die Kollegen vom Ordnungsamt in Ordnung sein sollte.« |