Oktober 2023 - Ausgabe 253
Geschichten & Geschichte
Ein Gruß aus Berlin von Werner von Westhafen |
Der Brief an die Nichte Es gibt viele böse Onkels heute. Von guten Onkels hört man wenig. Auch von Onkel Theo hätte man nie erfahren, wäre er nicht Bankier gewesen und hätte nicht aus diesem Grunde die Commerzbank die Druckkosten für eine »Sonderausgabe« seiner editorischen Hinterlassenschaft im Agora Verlag übernommen. Doch es mussten noch einige andere glückliche Umstände hinzukommen, damit der aus 120 beschriebenen Postkarten bestehende »Gruß aus Berlin« ein ganzes Jahrhundert überlebte, Kriege und Brandbomben überstand. Er musste zuerst von seinem Empfänger wertgeschätzt und sicher aufbewahrt werden; er musste später in die Hände eines Menschen mit Sinn für nette Geschichten fallen und er musste 1986 als Buch gedruckt werden, um 2023 in einem Pappkarton auf einem Kreuzberger Flohmarkt zu landen. Das erste Bild aus der Serie an die Nichte zeigt einen imposanten Großstadtbahnhof. Der Onkel schrieb: »Liebes Lottchen! Soeben auf dem Bahnhof Friedrichstraße angekommen nehme ich mir einen Taxometer und hole Dich zu dem lange versprochenen Bummel durch Berlin ab. Doch Halt! - Erst wollen wir uns im Café Bauer oder an der Kranzler Ecke mit einer vorzüglichen Tasse Chocolade stärken!« »Wir wollen nun unseren Taxa mit einer Wasserdroschke vertauschen«. Die Fahrt geht mit »Voll Dampf voraus gen Süden«, schon zeigt die Karte Nr. 96 die Jannowitzbrücke, »hier kommt die Stadtbahn bis unmittelbar an die Spree heran. Eine Strecke weit fährt sie unmittelbar über dem Wasser«. Dann folgt die Oberbaumbrücke, und natürlich muss Lottchen mit dem Onkel auch Berlins höchsten Berg besteigen. Die Nummer 100 zeigt den Wasserfall und in der Ferne auf dem Gipfel des Kreuzbergs das Denkmal an die Befreiungskriege. Unter der Karte mit der Nummer 120 steht: »Schluss und Kuß, Dein Onkel Theodor.« Der Gruß des Bankiers legt nahe, dass die Nichte auf dem Lande lebte und von der Stadt träumte. Doch Charlotte wohnte in der Winterfeldtstraße. Viel mehr aber ist nicht zu erfahren, weder über den Autor des Postkarten-Briefes und noch über die Empfängerin. Wo sie ihn aufbewahrte, wie oft sie mit ihm umzog, wo er am Ende entdeckt wurde, und ob sie vielleicht eines schönen Sonntags tatsächlich mit dem Onkel in der Kutsche durch die Stadt fuhr, ist unbekannt. Literaturhinweis: »Gruß aus Berlin«, Agora Verlag, 1986 |