Kreuzberger Chronik
November 2023 - Ausgabe 254

Kreuzberger
Irene Köhne

Ich bin sowieso ein Nachtmensch


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Privat

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Er ist jetzt schon ein Jahr tot, aber noch immer liegt da ein Glanz auf ihren Augen. Manchmal sind es die schönen Erinnerungen, manchmal ist es die Trauer. Irene Köhne hat bereits ihren siebzigsten Geburtstag gefeiert, sie hat schon diese und jenen begraben müssen, der Tod ist etwas Alltägliches geworden. Und doch trauert sie um ihn, als wäre er ihr geliebtes Kind, ihr Mann oder ihre beste Freundin gewesen, als hätte es einen jungen Menschen in der Blüte und nicht einen achtzigjährigen Mann im Herbst seines Lebens getroffen. Aber er war eben immer da gewesen, ihr Bruder, und es kam so plötzlich. Er war gesund, ging täglich spazieren, und dann kam diese neue Krankheit, die so viele mitnahm. Es schien nur eine lästige Erkältung zu sein, und dann war es doch der Tod gewesen.

Mit Peter, ihrem Bruder, 1957 - Foto: privat










Außerdem war Peter mehr als nur ein Bruder. Er war 13 Jahre älter als sie. Irene war das Nesthäkchen und Peter kümmerte sich um sie, ersetzte den Vater, der früh gestorben war. Nahm sie bei der Hand, bot Schutz. Als kleines Mädchen wartete sie nachmittags am Werktor am Oranienplatz, wenn der Bruder von der Arbeit kam. Dann liefen sie die Oranienstraße entlang bis zum Görli, wo Irene vorher noch mit ihren Freundinnen in der eingestürzten Bahnhofshalle gespielt und einmal ein Silberbesteck gefunden hatte. »Kreuzberg war ein einziger Abenteuerspielplatz. Nur in die dunklen Gänge trauten wir uns nicht hinein.« Am Bahnhofsportal vorbei liefen sie bis zur großen Wohnung in der Lausitzer Straße, wo sie seit 1959 wohnten, die Mutter, der Peter und die kleine Irene. Und auch, als Irene längst kein kleines Mädchen mehr war, stand sie immer noch nachmittags am Oranienplatz und wartete, und die Kollegen sagten zu Peter: »Du, da wartet schon wieder diese schöne Frau auf dich!«

Man schrieb das Jahr 1969, Irene war 18 Jahre alt und wirklich eine schöne Frau. Sie hatte gerade das Abitur gemacht. Die Lehrer und ihr Bruder hatten sie dazu überredet. Obwohl die Familie eigentlich kein Geld und die Mutter heimlich gehofft hatte, die Tochter würde bald auch etwas zum Haushalt beitragen. Aber sie war eine zu gute Schülerin gewesen. Zu fleißig. Tagsüber saß sie im Albert- Schweitzer-Gymnasium am Hermannplatz, »vom Klassenzimmer konnten wir in die alten Bäume vom Friedhof sehen«, und lernte fürs Abitur. Und nachts saß sie auf dem Postamt und sortierte Briefe. »Ich wollte mir ein Auto kaufen und die Nachtschichten waren gut bezahlt. Das passte, ich bin sowieso eher ein Nachtmensch.« Überhaupt passte Kreuzberg gut zu ihr. Kreuzberg war das richtige Viertel für Nachtschwärmer wie sie, »es wurde überall getanzt, an jeder Ecke eine Kneipe. Kreuzberg war wunderbar. Mein Bruder blieb sein ganzes Leben in dieser Wohnung mit dem großen Berliner Zimmer.«

Doch Irene trat irgendwann die Flucht an. Sie wollte weiter. Raus aus Berlin. Andere Länder sehen. Dazu brauchte sie ein Auto. Aber für einen VW hatte das Briefesortieren nicht gereicht, also wurde es ein kleiner Fiat. Sie war jetzt Studentin, eine von drei Mathematikstudentinnen, die brav wie auf dem Gymnasium vorne in der ersten Reihe saßen, fleißig und immer pünktlich. Während Uwe hinten in der letzten Reihe saß und immer zu spät kam. Er hatte einen guten Blick auf die drei Studentinnen in der ersten Reihe, Irene gefiel ihm, aber er traute sich nicht, sie anzusprechen. Sie war die Schönste. Alle wollten Irene. Also sprach er die anderen an. Und vielleicht hätten Irene und Uwe nie ein Wort miteinander gewechselt, wenn sie sich damals den VW hätte leisten können.

Denn eines Abends, sie wollte gerade zum Tanzen fahren, hörte sie, wie hinter ihr aufgeregt gehupt wurde. Zuerst sah sie nur den Qualm im Rückspiegel, dann die Flammen. Als sie aus dem Auto sprang, brannte ihr kleiner Fiat bereits lichterloh. »Von dem ist nichts übriggeblieben, der ist komplett ausgebrannt. Und bis die Versicherung endlich zahlte und ich mir ein neues Auto kaufen konnte, fuhr ich mit meiner Freundin zum Tanzen. Und die nahm mich dann eines Tages mit ins HiFi nach Zehlendorf.« Und da stand dann dieser Mann. Sie hatte ihn noch nie gesehen, aber sie war sofort verliebt. Und dieser Mann kam tatsächlich auf sie zu und fragte, ob sie tanzen wolle. Und ob sie nicht in der Uni immer in der ersten Reihe gesessen hätte. »Und weil meine Freundin irgendwann nachhause wollte und ich noch keine Lust hatte, fuhr er mich nachhause. Und das wars dann.«

Inzwischen haben die Kinder von Irene und Uwe längst eigene Kinder. Inzwischen liegt ein ganzes Leben zwischen dem Tanzabend und dem Rentner- und Großelterndasein in Zehlendorf. Sie war 22, als sie die Wohnung in Kreuzberg, die Mutter und den Bruder verließ. Gemeinsam mit Uwe. Sie zogen in den Wedding in eine Dreizimmerwohnung. »Das war gut. Aber der Wedding war nicht mehr der rote Wedding, das war alles CDU dort. Selbst die SPD war rechts im Wedding und hatte mit der Kreuzberger SPD nichts zu tun.«

Überhaupt war es außerhalb von Kreuzberg noch ziemlich spießig in Berlin. Auch in den Hallen der AEG, wo sie schon während des Studiums gearbeitet hatte. Als Informatikerin. Wo das hübsche und unverheiratete Fräulein von den vielen Männern des Betriebs selbstverständlich freudig begrüßt wurde. Überall »Fräulein hier, Fräulein da... «. Irgendwann konnte sie das Fräulein nicht mehr hören und ging zum Chef und sagte, er möge doch bitte dafür sorgen, dass man sie mit Frau anredete. »Der Chef war super, der machte das! Und dann hieß es immer: Da kommt die, die jetzt eine Frau sein möchte.«

Sie war eben eine der ganz wenigen Frauen in dieser Männerdomäne, in der Fabrikmaschinen hergestellt wurden, Großmaschinen, die eine Menge Metall verschlangen, und wo man beim Stanzen der Einzelteile aus den großen Blechen viel Material und Geld einsparen konnte, wenn man die Computer geschickt zu programmieren verstand. Irene Köhne verstand. 45 Jahre arbeitete sie am Rechner, von 1971 bis zur Rente, zuerst bei Telefunken, zuletzt im Helmholtz-Zentrum, wo sie den Computer für den Versuchsreaktor programmierte.

Als Ausgleich zur Mathematik engagierte sie sich in der Politik. Und weil Willy Brandt ein charismatischer Parteivorsitzender war und etwas zu bewegen schien, wurde Irene Köhne 1977 Mitglied der SPD. Wohingegen Uwe von den ersten Grünen begeistert war und während einer Versammlung der Alternativen Liste in der Neuen Welt an der Hasenheide seine neue politische Heimat fand.

Später, in Zehlendorf, saßen sie dann gemeinsam in der Bezirksverordnetenversammlung, Uwe für die Grünen, Irene für die SPD. Gestritten haben sie nie, nur gekämpft. »Es gab tatsächlich Leute in der BVV, die nie bemerkten, dass wir verheiratet waren! Wenn Uwe den Vorsitz in irgendeinem Gremium hatte und die Diskussion leitete, dann sagte er: Frau Köhne hat jetzt das Wort.« - Ohne das leiseste Zwinkern oder irgendeine Spur von Vertraulichkeit. Das Ehepaar Köhne war nüchtern. Es ging ihnen um die Sache. Sie vertraten ihre Standpunkte, nicht die der Partei oder gar die des Lebensgefährten. »Ich bin ja in die SPD gegangen, weil ich etwas verändern wollte.«

Irene Köhne ist kein Parteisoldat. Sie kämpft für ihre Überzeugungen. Und wenn sie etwas gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes hat, sagt sie das auch dem Bürgermeister. Auch wenn der in ihrer Partei ist und das Feld partout bebauen möchte. Sie ist die einzige, die das Wort ergreift und den Unmut Müllers auf sich zieht. Aber hinterher haben sich die Genossen bedankt dafür, dass sie klargestellt habe, dass nicht alle SPDler für eine Bebauung des alten Flughafens seien. Müller, beim Volkentscheid noch in der Rolle des Baustadtrats, habe sich in das Projekt verbissen und die Niederlage nicht verkraftet.

An ihrem Schreibtisch, 2020 - Foto: privat










Irene Köhne kämpft gerne und gewinnt gerne. Sie hat, als sie mit ihren kleinen Kindern vom Wedding nach Zehlendorf zogen, für die Einrichtung einer Gesamtschule gekämpft. Nicht nur, weil das für ihre eigenen Kinder die ideale Schule gewesen zu sein schien, sondern weil sie von dem Konzept der Gesamtschule überzeugt war. Weil es das in Kreuzberg und Neukölln und überall schon gab. Nur in Zehlendorf nicht. »Aber 1994, als die Amerikaner die Stadt verließen, wurde die American Highschool frei. Der Bürgermeister, CDU, wollte von einer Gesamtschule nichts wissen, aber wir haben dann eine Bürgerversammlung organisiert, und der Andrang war riesig, da kamen Hunderte von Eltern, es gab keinen Platz mehr.« Da musste sich der CDUler geschlagen geben. Zwei Jahre später suchte man nach einem Namen für die neue Schule, vorgeschlagen wurden im spießigen Zehlendorf natürlich lauter Männer. Irene Köhne wollte den Namen einer Frau. Einer Kämpferin, die als Mädchen an Kinderlähmung erkrankt war und gegen diese Krankheit so lange ankämpfte, bis sie 1960 als Leichtathletin bei der Olympiade in Rom über 100 und 200 Meter Gold gewann: Wilma Rudolph. Die Schule heißt noch heute so. Und es ist noch gar nicht lange her, da traf sie auf einer Diskussionsveranstaltung jemanden, der die Schule gut kannte und erzählte, er habe ihr seinerzeit den Namen verliehen. Irene Köhne schmunzelte und fragte, wie er das denn geschafft habe, wo doch Schulen damals nur nach Männern benannt wurden, »und dann fing er an, herumzustottern, bis ich ihm irgendwann gesagt habe, wie das wirklich war, und dass ich das war.«

So hat sie sich durchgesetzt. Gegen die Männer, gegen die Konservativen, in und außerhalb der Partei. In der BVV und im Abgeordnetenhaus. Sie war Politikerin, Mathematikerin. Jetzt ist sie Rentnerin. Aber sie kämpft weiter. Zum Beispiel dafür, dass das Lebenswerk ihres Bruders endlich gewürdigt wird. Sie möchte den Blick der Öffentlichkeit auf diese großartige Sammlung lenken. Tausende von Bildern aus vergangenen Zeiten. Schon zu Lebzeiten hatte sie ihren Bruder zu überreden versucht, hatte sich hinter seinem Rücken mit dem damaligen Leiter des Kreuzberg Museums getroffen, und Martin Düspohl war begeistert gewesen, als er sah, was dieser Peter Plewka da alles aus Kreuzberg zusammengetragen hatte. Noch heute glänzen Irene Köhnes Augen, wenn sie von der Sammlung ihres Bruders spricht.

Manchmal aber rührt der Glanz auf ihren Augen von dieser traurigen Geschichte, die ihr Bruder ein ganzes Leben lang mit sich herumtrug. Sie hat ihn noch jedes Wochenende besucht, mit Uwe und den Kindern, saß an jedem Wochenende wieder in der alten Wohnung in der Lausitzer Straße mit dem kleinen Privatmuseum in dem großen Berliner Zimmer. Saß da mit den Erinnerungen an die Mutter und an die kleine Marianne, die jüngste Schwester. »Sie war irgendwie immer präsent. Es gab ja Bilder von ihr.«

Irene Köhne hat oft darüber nachgedacht, ob ihr Bruder sich vielleicht deshalb ein Leben lang so liebevoll um sie kümmerte, weil er glaubte, nicht genug auf die kleine Schwester aufgepasst zu haben. Sie waren vor den Bomben zur Großmutter nach Schlesien aufs Land geflüchtet, die Mutter, der Peter und die kleine Marianne. Sie waren im Wald spielen, 1945, wenige Wochen vor dem Ende des Krieges, und da lag etwas und glitzerte, und Marianne lief hin und Peter rief noch: Halt! Nicht! Bleib hier! Aber da knallte es schon, und dann lag sie da, blutend, die Kleine, fünf Jahre alt, ein Arm abgerissen, die Augen geschlossen. Und der Siebenjährige rannte ins Dorf und fand tatsächlich den Arzt, aber der Arzt sagte: Solchen wie Euch helfe ich nicht. Sie verblutete. »Mein Bruder hat sich ein Leben lang Vorwürfe gemacht. Ich weiß nicht, was für ein Mensch aus ihm geworden wäre, wenn das damals nicht passiert wäre.« Vielleicht wäre er tanzen gegangen, hätte eine Frau gefunden und Kinder bekommen. Aber dann hätte es diese wunderbare Sammlung wahrscheinlich nie gegeben.



AUS DER SAMMLUNG PETER PLEWKA




Kinder vor der Hornstraße 14 - 1924













Dachgarten des Kaufhauses Karstadt am Hermannplatz - Dreißigerjahre












Die Hochbahn am Kottbusser Tor, 1904












Fleischerei in der Heimstraße 16, undatiert



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