Kreuzberger Chronik
Mai 2023 - Ausgabe 249

Kreuzberger
Halime Karademirli

Ich bereue nichts


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von Reiner Schweinfurth

Titelfoto: Holger Groß

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Als Halime Karademirli, die Direktorin des Konservatoriums für türkische Musik in der Peter Rosegger-Schule am 6. Februar morgens die ersten Nachrichten vom großen Erdbeben in der Türkei und in Syrien hört, ist sie schockiert und handelt sofort. Sie ruft das Konsulat an, Radio Metropol, die Community ist alarmiert - und schon am Nachmittag läuft die Hilfsaktion an. Der Hof der Schule wird zum großen Sammelplatz für Hilfsgüter. Hunderte von Landsleuten bringen Kleidung, Lebensmittel, Haushaltsgegenstände in die Bergmannstraße. Im ganzen Kiez herrscht Verkehrs-Chaos. Doch die Ausnahmesituation wird bewältigt. Ein Fernsehteam der Tagesschau filmt. Nach drei Tagen wird der Hotspot aufgelöst.

Halime Karademirli war wieder einmal zur Stelle, wenn es brennt und nicht lange überlegt werden kann, was zu tun ist. »Ich war immer so«, sagt sie. »Schon als Mädchen musste ich anpacken. Die Eltern haben gearbeitet. Wir waren vier Jungs, ich das einzige Mädchen. Ich war Mama, Schwester, Freundin, und ich schmiss den Haushalt.«

Der Vater besaß eine Schmiede, die Mutter führte ein Geschäft für Trikotagen. Mit dem Großvater, einem erfolgreichen Teppichhändler, zog sie über die Dörfer, kaufte den Weberinnen ihre geknüpften Kunstwerke ab und beobachtete den Großvater beim Feilschen. Sie sah, wie man Bargeld zu Bündeln rollt und mit bunten Wollfäden zusammenhält. »Bargeld sei gut für die Seele, hat er immer gesagt.« Die Gespräche mit den Großeltern waren offen und ehrlich, direkt und voller Energie. Halime liebt dieses Milieu.

Die Familie lebte in Usak Merkez, der Hauptstadt der Provinz Usak zwischen der Ägäisküste und Zentralanatolien. Schon im Alter von 16 Jahren heiratete sie, mit 17 brachte sie einen Sohn zur Welt. Doch die von den Eltern arrangierte Ehe funktionierte nicht. »Das Leben in der Familie war trotzdem gut«, sagt Halime Karademirli.

Eines Tages erzählte eine Freundin, dass das Arbeitsamt von Usak Stellenangebote aus Berlin vermittelte. Bei Siemens! »Siemens hielt Arbeitsverträge bereit, die schon in der Türkei unterschrieben werden konnten.« So holte der Konzern Tausende Türken in die Bundesrepublik. Viele dieser Gastarbeiter sind in Berlin geblieben. Mittlerweile leben sie hier in der vierten Generation, werden hier begraben, die Kinder können besser Deutsch als Türkisch. Doch die erste Generation hatte es schwer, besonders Halime.

Weil sie wusste, dass der Vater sie nicht gehen lassen würde, unterschrieb sie den Arbeitsvertrag mit Siemens heimlich. Doch das Amt informierte Halimes Familie. Der Vater tobte und verbot der Tochter die Ausreise. »Von da an war eine unsichtbare Mauer zwischen uns.« Der Flugtermin rückte näher, sie »konnte nicht mehr schlafen. Aber es konnte mich auch niemand mehr von meinem Entschluss abbringen.« Am 13. Oktober 1972 verließ sie Mann und Kind und stieg ins Flugzeug nach Berlin.

Am Flughafen in Tegel erwartete ein Mitarbeiter von Siemens die türkischen Frauen. Doch er schien einige von ihnen zu übersehen, darunter Halime. Sie war es, die ihn darauf aufmerksam machte, dass sie auch dazugehörten. Dann fuhren sie nach Siemensstadt, wo sie zu dritt im 9. Stock eines Hochhauses unterkamen.

Herr Bobrowski, ihr neuer Chef, nahm sie freundlich in Empfang. »Alles war korrekt, doch dann überkam mich Heimweh: Kein Telefon, kein Radio, kein Brief. Unser Übersetzer musste mich trösten. Aber ich heulte nur, ich konnte ja kein Wort deutsch.« Die Abende waren einsam in Berlin. Kein Lachen, kein Tratsch mehr mit der Nachbarschaft. Und niemand wusste, was sie hier arbeitete. Aus der Familie hatte doch noch nie jemand in einer Fabrik gearbeitet. Fabrikarbeit war Sklavenarbeit! Niemand zuhause hatte eine Ahnung, wie es ihr hier ging, was sie machte und was aus ihr werden würde. Sie auch nicht.

Die Frauen in ihrer Abteilung waren laut, forsch, kräftig. Halime musste da durch. Sie arbeiteten an Drahtwicklern für Telefonhörer. Halime war geschickt und kam zur Endabnahme. Kollegin Hartmann nahm sich der jungen Frau an. »Ich werde Dir alles zeigen!« Halime fasste Vertrauen und bat: »Seien Sie meine Lehrerin!« So lernte sie in kürzester Zeit Deutsch und stieg zur Vorarbeiterin auf. »Ich wollte es meinem Vater zeigen!«

Der versagte ihr die Anerkennung nicht, als sie endlich Urlaub bekam und ihre Familie in der Türkei besuchte: »Du hast die Schule des Lebens mit Sehr Gut abgeschlossen«. Auch ihre Mutter, Ayse, war stolz. »Meine Mutter hat mich immer unterstützt. Ihre Familie kam aus Ägypten, und meine Großmutter hatte uns eingeschärft, dass Frauen nicht leiden müssten, nur weil sie Frauen sind. Sondern dass Frauen stark sind und alles schaffen können - auch alleine.«

Die Zeit bei Siemens war eine gute Zeit gewesen. Doch im November 1977 kündigte sie und kehrte in die Türkei zurück. Sie war schwanger. »Ich hatte es noch einmal mit meinem ersten Mann versucht, als er in Berlin zu Besuch war. Aber es hat nicht sollen sein«, sagt sie. Sie fand in der Türkei keine Anstellung mehr, die ihren Talenten und Ansprüchen entsprach. Für die Kinder sei es schade gewesen, auch für sie. »Ich musste loslassen lernen.« Es sei falsch gewesen, sie so jung zu verheiraten. Obwohl es im Nachhinein auch gut so war. »Ich war gezwungen, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ohne diese Heirat wäre ich heute nicht da, wo ich jetzt bin. Ich bereue nichts.«

Also kehrte sie zurück nach Berlin, bewarb sich bei der AEG und wurde sofort eingestellt. Ihre umfangreichen Kenntnisse wurden geschätzt. Die Belegschaft mochte sie. Halime wurde Vertrauensfrau und begann in der Abteilung für Leiterplatten zu arbeiten, musste die Bauteile zuordnen. Fehler konnten fatale Folgen haben und zum Maschinenausfall führen. Halime war bald unersetzlich.

Dann kam die entscheidende Wende in ihrem Leben: Sie traf einen Mann, den sie vor zwölf Jahren in einem Casino in Izmir kennengelernt hatte: den Musiker Nuri Karademirli! Er erkannte sie zuerst nicht. Dann begannen sie zu erzählen. Beide hatten eine Trennung hinter sich, beide hatten zwei Kinder – und beide hatten beschlossen, nie wieder zu heiraten. Auf langen Spaziergängen erzählten sie sich ihr Leben und verliebten sich.

Auch Nuri hatte es nicht leicht gehabt. Er verlor seinen Vater, als er 13 Jahre alt war. Er arbeitete schon als Jugendlicher in Restaurants als Musiker und ernährte mit seinem Verdienst die Familie. Nuri war ein begnadeter Virtuose und bereiste schon bald mit dem Orchester das halbe Land. Zu den größten türkischen Gemeinden der Siebzigerjahre gehörte damals auch eine Gemeinde in Deutschland: Kreuzberg. Nuri nahm die gesamte Familie mit auf die Tournee. Dann erkrankte die Mutter, und während das Orchester weiterzog, blieb Nuri mit der Familie zurück und suchte sich einen Job bei Hertie.

Auch er arbeitete sich schnell nach oben, wurde Chef der Herrenabteilung bei Hertie und spielte bei abendlichen Veranstaltungen die Oud - ein altes orientalisches Instrument. Nuri war ein Star und Halime bewunderte ihn. Sie zogen zusammen, bekamen eine Tochter – und heiraten schließlich doch wieder.

Nun gründet Nuri mit Unterstützung der Ausländerbeauftragten Barbara John einen Chor, der in einer Remise in der Solmsstraße probt, und er ruft einen deutsch-türkischen Kulturverein ins Leben. Halime Karademirli arbeitet ehrenamtlich in einer Beratungsstelle für türkische Jugendliche und vermittelt Workshops und Förderangebote. »Wir haben uns damals sehr für eine Berufsausbildung engagiert. Das war gut. Ich verstehe nicht, warum heute alle studieren wollen. Damals haben wir die jungen Leute an Handwerks- und Industriebetriebe vermittelt, und da arbeiten die teilweise heute noch!«

mit der Schauspielerin Zeynep Avci










mit den Schauspielern Almila Bagriacik & Ahmet Mümtaz Taylan










Nuri Karademirli hat irgendwann die Nase voll von den Bauchtanzkonzerten in den verrauchten Lokalen. Doch bevor er sich mit seiner Frau ganz der Musik widmen kann, erklimmen die beiden noch einen Gipfel, den sie später wieder herunterpurzeln, ohne jedoch größeren Schaden zu erleiden. Halimes Wissen in der Elektronik bringt sie zu einer mittelständischen Firma, die ebenfalls Leiterplatten produziert. »Einen Tag nach meinem Vorstellungsgespräch habe ich angefangen. Der Chef hat sofort gesehen, dass ich mich mit der Arbeit auskenne. Er hat mir den Schlüssel in die Hand gedrückt und mir die Verantwortung für acht Frauen übertragen.«


Sie holt Nuri in den Betrieb, der im Lager anfängt, aber in den Pausen Lötunterricht von seiner Frau erhält und dann Karriere als Verkäufer für elektronische Bauteile macht. Beide verdienen jetzt gut, bauen sich ein Haus in Reinickendorf und werden sogar Teilhaber des Betriebs. Der wird kurz vor der Wende nach Nürnberg verkauft. Alles scheint in die lichten Höhen des Erfolgs zu segeln. Halime kann mittlerweile die Maschinen selber programmieren. »Ich habe keine Angst gehabt, vor gar nichts. Ich rede nicht gern über Probleme. Lieber eine Lösung finden. Jammern ist doof.«

Dann gibt es Streit mit dem neuen Eigentümer, wenig später ist die Firma pleite. »Wir kommen zurück aus dem Urlaub und alles ist weg.« Das Gericht soll es regeln, doch da ist nicht viel zu regeln. Die Firma hat Konkurs angemeldet. Halime und Nuri müssen ihre Wohnung in Istanbul verkaufen und wieder von vorn anfangen.

Sie setzen alles auf eine Karte: die Musik. Und der Chor floriert: Auftritte in der HdK, im Ernst-Reuter-Saal, beim SFB. Und die Idee einer Schule für türkische Musik nimmt allmählich Gestalt an. Sie schicken einen Lehrplan an den Senat, die Referenzen von Nuri Karademirli sprechen für sich, doch die deutschen Behörden winken ab. Als Reaktion darauf gründen sie 1998 ihre eigene Privatschule, aus der das spätere Konservatorium für türkische Musik hervorgeht. Sie erhält viel Zulauf, die Einwanderer haben Sehnsucht nach der Kultur ihrer Heimat. Sie nehmen Gesangsunterricht, Instrumentalunterricht, Tanzunterricht, spielen Theater. Die Verbindungen zum türkischen Konsulat sind gut, das Projekt erhält finanzielle Unterstützungen. 2011 werden die Räume am Marheineke-Platz bezogen.

Das Konservatorium ist bislang der einzige Ort in Europa, an dem klassische türkische Musik unterrichtet wird. Viele namhafte Musiker aus der Türkei geben sich seitdem in Kreuzberg die Klinke in die Hand. Deutsche Künstler geben Unterricht, Musiker aus aller Welt reisen zu Veranstaltungen an. Kinder feiern türkische und deutsche Feiertage gemeinsam.

Alles ist wunderbar. Bis Nuri 2013 im Auto ein Schlaganfall trifft. Er schafft es gerade noch an den Straßenrand, stirbt aber bald darauf. »Ich habe ihm versprochen, weiterzumachen. Das tue ich auch!«, sagt Halime. Weitermachen...

Am 5. März wurde sie 70 Jahre alt. Für die Zukunft der Peter Rosegger-Schule gibt es nur vage Pläne. Sie ist renovierungsbedürftig. Halime wird weitermachen. Jetzt ist eine gemeinsame Nutzung von Konservatorium und Volkshochschule im Gespräch. Das könnte die Rettung für das historische Schulgebäude, aber auch für das außergewöhnliche Lebenswerk von Halime und Nuri Karademirli sein. •


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