Kreuzberger Chronik
Mai 2023 - Ausgabe 249

Geschichten & Geschichte

Der Saure Kreuzberger


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von Erwin Tichatschek

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Ein streng gehütetes Geheimnis

Der Wein liebt die Berge. Er bevorzugt Hänge, an denen die Sonne auch in kühlen Abendstunden noch wärmt. Auch der Berliner Wein, der nach dem harten Winter des Jahres 1740 beinahe ausstarb, hatte sich auf Hügeln angesiedelt. Noch heute findet man Reben auf dem Prenzlauer- oder auf dem Kreuzberg. Insgesamt wächst auf einem Hektar Berlins Wein, und schon etwas weiter südlich, in Werder, dem Berliner Obstgarten an der Havel, sind mehr als sechs Hektar des Wachtelberges mit Reben bepflanzt. Der Werderaner ist einer der nördlichsten Qualitätsweine Deutschlands. Inzwischen versuchen 20 Winzer im sandigen Brandenburg die warmen Temperaturen der letzten Jahre zu nutzen.

Die Rebstöcke kamen nach Brandenburg, als es noch »Brennabur« hieß und von wilden Stämmen besiedelt war. Unter ihnen sollen Gruppen aus Sachsen und Schwaben gewesen sein, die erstmals Wein in der Region anpflanzten.

1565 zählte man rund um den Wachtelberg bereits 70 Weinberge und 15 Weingärten in Brandenburg. Es gab einen »Weinberg« in Köpenick, eine »Weinstraße« in Friedrichshain und einen »Weinbergsweg«, der von Schöneberg zur Hasenheide führte. In der Gegend um den Kreuzberg waren mehr als 100 Weinbauern am ackern, alte Bücher belegen, dass die »Winzer von den Tempelhofer Bergen« anno 1595 immerhin 36 Tonnen Wein für einen Preis von 144 Silbertalern nach Schweden und nach Russland verkauften. Der Wein vom Kreuzberg soll wegen seines »vortrefflichen Geschmacks« beliebt gewesen sein.

Adolf Glasbrenner, der »Vater des Berliner Witzes«, kam noch selbst in den Genuss des Berliner Weines. In seiner Weinkarte aus dem Bunten Berlin spottet er über den sauren Tropfen, auf den das Militär anlässlich der feierlichen Segnungen ihrer Regimentsfahnen besser verzichten sollte: »Wenn man davon een eenzijes Achtel über de Fahne jießt, so zieht sich das janze Regiment zusammen!« Für die Zeit der Maskenbälle jedoch sei der Kreuzberger Tropfen zu empfehlen: Er besäße »diese interessante Feuchtigkeit«, die auch nach kleinstem Schluck jede Investition in eine Maske überflüssig werden lasse, da man schon beim ersten Tropfen »solche Jesichter schneid´t, daß einen keen Mensch mehr erkennt.«

Ein anderer Zeitzeuge schrieb, dass der Wein vom »Halleschen Tore« so sauer und herb sei, dass er »Kopfschmerzen und Magenbeschwer« verursache. Auch Louis Drucker, der eine Weinstube Unter den Linden besaß, spottete über den Berliner Traubensaft: »Als Gott die Ufer des Rheines bekränzte und der Champagne ihre goldenen Trauben schenkte«, lachte sich der Teufel ins Fäustchen und legte einen Samen in die Brandenburger Erde, »der Verderben über alle menschlichen Geschmacksnerven« brachte.

Ob es allein die Säure und nicht doch der Alkohohlgehalt des Weines war, der die Dichter zu ihren blumigen Pamphleten inspirierte, sei dahingestellt. Sicher ist, dass nach dem kalten Winter 1740 der Wein von den Hügeln der Stadt und den Getränkekarten verschwand, um das Feld für Bier und Kornbranntwein zu ebnen. Am Kreuzberg siedelten sich Brauereien und Biergärten an, der Wein geriet in Vergessenheit.

Doch 1968 war ein Jahr großer Veränderungen und Kreuzberg erhielt einige Rebstöcke aus Ingelheim und Wiesbaden zum Geschenk. Der weiße Riesling und der rote Spätburgunder fühlten sich auf dem alten Weinberg sofort heimisch und trugen bald erste Früchte. Heute wurzeln auf dem Kreuzberg wieder einige hundert Rebstöcke.

2020 standen auf den Etiketten der seltenen Flaschen noch die Namen Kreuz-Neroberger – benannt nach dem Hausberg der Wiesbadener – und Kreuz-Ingelberger. Doch seit zwei Jahren sind Kreuzbergs Weine namenlos. Eine Gesetzesnovelle verbot dem Kreuzberger, sich mit fremden Federn wie Neroberger oder Ingelberger zu schmücken. Deshalb trugen die Flaschen des Jahrgangs 2021, die im Kreuzberg Museum verkauft wurden, ein weißes Etikett. Die Kreuzberger, die bekanntlich stets mitregieren möchten, durften einen Namen ihrer Wahl aufs Etikett schreiben und die leere Flasche zur Abstimmung einreichen. Doch auch im März 2023 war der gute Tropfen noch immer namenlos.

An poetischen Kreationen der Kreuzberger Weintrinker mangelte es nicht. Vom »Bergmannsträßler« und vom »Magenbitter«, vom »Sauren Kreuzberger« und vom »Ungenießbaren«, vom »Roten Senat« und vom »Wehmutstropfen« soll in Kneipen die Rede gewesen sein. Ob es die unübersichtliche Fülle des Angebots war, die eine Namensfindung für das Kreuzberger Grünflächenamt zu einer schier unlösbaren Aufgabe machte, oder ob juristische Einwände die Angelegenheit erschwerten: Bis heute sind die künftigen Namen des Weines ein streng gehütetes Geheimnis. Weder die Mitarbeiter des Museums in der Adalbertstraße, die die Vorschläge sammelten, noch das Grünflächenamt oder der Pressesprecher des Bezirksamtes, auch nicht Kreuzbergs regierende Bürgermeisterin wollten sich zum Sauren Kreuzberger äußern und verwiesen auf noch laufende Ermittlungen. Die Liste der eingereichten Vorschläge sei nicht für die Öffentlichkeit gedacht.

Doch selbst Daniel Mayer, der vertraglich vor zehn Jahren als »ehrenamtlicher Weinbeauftragter« für Friedrichshain-Kreuzberg mit der Pflege der Weinstöcke beauftragt wurde, erhielt keine Auskunft. »Ich empfinde das als - sagen wir - unkreuzbergerisch. Erst wird das Volk mit viel Brimborium eingeladen, sich zu beteiligen, und dann herrscht Stillschweigen. Wir haben ein Recht auf das Wahlergebnis!« Die Stöcke auf dem alten Weinberg stört das alles wenig. Sie haben bereits mit der Produktion des Sauren Kreuzbergers, Jahrgang 2023, begonnen. •

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