Mai 2023 - Ausgabe 249
Hausverbot
Die Frau mit dem Dutt von Michael Unfried |
In dem italienischen Lokal, das seit 40 Jahren vom Vater mit seinen drei Töchtern bewirtschaftet wurde, gab es einen guten Mittagstisch mit einem Hauptgericht aus Fleisch und Gemüse oder selbstgefüllten Teigtaschen, weshalb die Gäste das Gefühl hatten, dass der Wirt nicht für irgendjemanden, sondern für sie kochte: Altgewordene Kreuzberger, deren speckige Jacketts bezeugten, dass ihre Träger die besten Tage bereits hinter sich hatten. Hier trafen sich Kunstdrucker mit langen Bärten, pensionierte Architekten, aussortierte Schriftsteller und Lebenskünstler, die sich mehr oder weniger kannten und kurz oder lang begrüßten. In diese eingeschworene Gesellschaft verirrten sich ab und zu fremde Wesen aus der Immobilienbranche oder teuer gekleidete Touristen aus München, die den Kreuzberg bestiegen hatten und durch die gedeckten Tische auf der Straße angelockt worden waren. Oder eben diese junge Dame, die nun schon seit drei Tagen hier auftauchte, um sich den nächsten Kaschmirpullover vom Essen abzusparen. Sie trug einen blonden Dutt auf dem Kopf, den man aus den Zeitschriften der Sechziger kannte, und goldene Ringe. Als der neue Kellner sie sah, verzog er den Mund. Sie hob wie immer kaum den Kopf beim Eintreten und blickte auf ihr Handy. Sie interessierte sich nicht für die Gäste des Lokals und warf keinen Blick in die Runde, um festzustellen, wie gut das Lokal besucht war. Ihren Platz fand sie, indem sie, knapp an ihrem Handy vorbeischauend, den Blick auf den Boden richtete und dem freien Weg zwischen den Stühlen folgte, bis sie vor einem Tisch mit freien Stühlen stand. Sie legte das Handy auf den Tisch, faltete die Wolljacke auf dem Stuhl gegenüber zusammen und hängte den Seidenschal über die Lehne. Sie sah nicht auf, um nachzusehen, wer am Nebentisch saß, und sie warf dem Kellner keinen Blick zu, um auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen. Sie las keine Speisekarte, sondern las auf ihrem Handy, bis eine Stimme neben ihr sagte: »Was darf es sein?« Ohne aufzublicken antwortete sie: »Eine Apfelschorle und einen kleinen gemischten Salat bitte!« Fünf Minuten später brachte der Kellner den Salat. Sie nahm ihn wortlos in Empfang. Auch das Essen würdigte sie keines Blickes, sondern stach blind in den Teller, mit dem Zeigefinger der freien Hand über das Telefon streichend. Da erschien der Wirt. Er warf einen freundlichen Blick in die gut gefüllte Gaststube, bis er die Frau mit dem Dutt sah. Er wechselte einige Worte mit dem Kellner, dann trat er an ihren Tisch und sagte: »Frau Leibfried!« Sie verzog den Mund. »Frau Leibfried, das Hausverbot, das ich Ihnen letztes Jahr erteilt habe, hat seine Gültigkeit noch nicht verloren. Darf ich Sie bitten….« • |