Kreuzberger Chronik
Juni 2023 - Ausgabe 250

Kreuzberger
Gert Lejeune Dirichlet

So ist das Leben, manchmal geht´s daneben.


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Holger Groß

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Er braucht nicht viel zum Leben. Drei kleine Zimmer, wovon eines eher ein Depot als ein Zimmer ist. Ein Hochbett, auf dessen hölzerner Treppe sich Bücher stapeln, zwischen denen er auf dem Weg zur Nachtruhe hindurchbalancieren muss. Einen Schaukelstuhl, einen Sessel und ein Schachspiel vielleicht. Ein kleiner niedriger Tisch und ein großer, von Papierstapeln okupierter Arbeitstisch. Und ein Sofa für das Nickerchen zwischendurch und Bilder an den Wänden.

Die Bilder sehen aus, als wären sie gemalt. Die meisten zeigen den Kupfergraben, den kleinen Kanal in der Mitte der Stadt mit der Schleuse. Sie sind durchzogen von sanften Linien, die der Wind auf die Wasseroberfläche zeichnet, auf der sich die Welt spiegelt mit ihrer alten Architektur, ihren Lichtern und Schatten.

Eines fällt aus dem Rahmen: Es zeigt einen Entwurf für das Berlin Museum. Es entstand im Rahmen des internationalen Wettbewerbs und ist Lejeune Dirichlets letzter Entwurf. Gewonnen hat den Wettbewerb Daniel Libeskind, und aus dem Berlin Museum ist das Jüdische Museum geworden. Aber Lejeune Dirichlet hat nicht umsonst gearbeitet, sein Entwurf kam in die engere Wahl, wurde ausführlich diskutiert, honoriert und in einer Publikation über den Wettbewerb verewigt.

Lejeune Dirichlet hat viele Entwürfe gezeichnet. Als die Augen des Architekten vom vielen Zeichnen am Reißbrett müde wurden, begann er mit einem Computerprogramm zu arbeiten. Eines Tages war das Programm nicht mehr kompatibel mit dem Rechner, auch für seinen Großformat-Drucker gab es keine Kartuschen mehr. Eine neue Ausrüstung hätte 16.000 Euro gekostet. Lejeune Dirichlet sagte sich: »Ich höre auf mit der Architektur und widme mich der Kunst.«

Gert Lejeune Dirichlet hatte schon immer einen eigenen Kopf. Das belegt auch das Tagebuch der Mutter. Sie erzählt darin, dass »der kleine Pieps« 1944, als sie über das Eis der kurischen Nehrung von Ostpreußen in Richtung Deutschland flüchteten, jedes Mal, wenn die Flieger im Tiefflug über sie hinwegdonnerten, vom Pferdewagen gesprungen sei, sich auf die Straße gestellt und den Piloten mit dem Knüppel gedroht habe. Während alle anderen im Treck unter den Pferdewagen Schutz suchten. »Ich war wohl schon immer ein bisschen neben der Spur!«

In Schleswig Holstein, auf dem Hof von Bauer Wehling, wo die Flüchtlinge Unterschlupf fanden, hat er mit dem Zeichnen von Pferden begonnen und dabei so viel Talent bewiesen, dass er das eine oder andere Lob erhielt. Aber auch viel Kritik. »Alle, die etwas von Pferden verstanden, haben mich korrigiert. Schau mal hier: Da stimmt was nicht,... - und da …!« Es formierte sich familiärer Widerstand gegen die künstlerischen Ambitionen des Sprösslings, kein einziges Pferd ist erhalten, alle Zeichnungen wurden irgendwann entsorgt. »Aber so ist das im Leben, manchmal geht’s daneben.«

Die Pferde waren für die Erwachsenen nur Kinderkram gewesen, doch auch später, als Gert nicht mehr nur Pferde malte, mahnte ein Lehrer, er solle sich bloß nicht einbilden, ein Künstler zu sein, nur weil er zeichnen könne. Aber Gert ging die Kunst nicht aus dem Kopf. »Ich schwankte zwischen Architektur und Kunst. Dann hörte ich, dass es in Berlin auf der Hochschule der Künste eine Architekturabteilung mit Lehrern aus dem Bauhaus gab. Da war klar: Da will ich hin.«

Woraufhin der Vater sagte: »Dann erhältst du von mir keinen Pfennig!« Gert Lejeune Dirichlet verzichtete auf den Pfennig und zog 1960 nach Berlin. Der Vater - wie der Sohn von hartnäckiger Natur - blieb stur und schickte dem Studenten keinen Pfennig. Aber als Gert ihm eines Tages sein Diplom zeigte, »da war er dann doch stolz und honorierte das mit einem Scheck über 1000 Mark!«

Gert Lejeune Dirichlet muss viel lachen, wenn er zurückdenkt. Zum Beispiel über diesen P.G.L. Dirichlet aus Düren, seinen Urgroßvater: »Der wurde immer gehänselt, weil er ständig auf dem Ofen saß und Bücher las. Und zwar Mathematikbücher! Da war er zwölf Jahre alt. Die Eltern meinten, er verstehe doch gar nicht, was er da lese, woraufhin er geantwortet haben soll: Da habt ihr völlig recht. Aber ich lese das so lange, bis ich es verstehe.« Der Kreuzberger Nachfahre des Mathematikers kichert und fügt hinzu: »Das war für mich die wesentlichste Geschichte meiner Vorfahren.«

Gert Lejeune Dirichlet erzählt die Anekdote nicht, weil der Vorfahre es auf ein Straßenschild in Düren und auf die Rückseite einer Publikation über die Mathematiker des 19. Jahrhunderts geschafft hat. Er erzählt sie, weil die beiden Männer artverwandt sind. Weil sie etwas einmal Begonnenes so leicht nicht wieder aufgeben könnten. Schach zum Beispiel hat Gert Lejeune Dirichlet schon mit seinem Vater auf dem Hof von Bauer Wehling gespielt. So oft, bis er irgendwann gewann. »Danach wollte er nicht mehr mit mir spielen! Und dann kam ein Vikar, der wollte uns bekehren. Da hab´ ich mir gedacht, dem zeige ich´s mal. Gegen den habe ich auch gewonnen.«

Gert Lejeune Dirichlet spielt Schach bis heute. Zum Beispiel mit Peter, seit 15 Jahren, beinahe täglich. Früher trafen sie sich in der Atempause, dem kleinen Cafe mit dem günstigen Mittagstisch in der Nähe des Südsterns. Als das Lokal ausziehen musste, zogen die Spieler ins Friedhofscafé gegenüber. Es geht nicht ums Gewinnen. »Das Wunderbare am Schach ist ja, dass man nie auslernt und sich ein Leben lang weiterentwickeln kann. Manchmal, im Café, wenn wir fertig sind und ich gehe, fragen die Leute, ob ich gewonnen habe. Dann antworte ich: Beim Schach kann man nicht verlieren. Entweder man gewinnt das Spiel oder man gewinnt an Erfahrung

Wenn das Büchlein mit dem Konterfei des Mathematikers P.G.L. Dirichlet einen prominenten Platz im Reich der Bücher, Bilder und Aktenordner Gert Lejeune Dirichlets hat, - gleich neben den dicken Bänden über Architectual Competitions oder Krankenhausbau - dann vielleicht, weil er sich diesem lernbegierigen Jungen auf dem Ofen verwandt fühlt. Weil dieser P.G.L Dirichlet immer sehr genau wusste, was er wollte.

Auch Gert hat immer gewusst, was er will. Deshalb beschlich ihn schon lange vor dem Stillstand des Druckers der Gedanke, sich von der Architektur ab- und wieder der Kunst zuzuwenden. Dem freien Spiel von Linien, Farben, Formen. »Es geht ja immer um formale Dinge, in der Architektur genau wie in der Kunst.« Es geht um Perspektiven, um Ecken, Kurven und Geraden. »Ich überlege mir, wo geht die Linie hin, welches Drama wird sie anstoßen, und so weiter. Jedes Bild hat seine eigene Dramatik.«

Gert Lejeune Dirichlet steht vor dem Bild des »Wasserfalls« am Kupfergraben. Er hat ihn unzählige Male fotografiert und gefilmt, ist jahrelang fast täglich dort hingepilgert und hat sie immer wieder festgehalten, die gleiche Szene. »Und sie war jedes Mal anders! Alles fließt, panta rhei«. Gert Dirichlet hat ein Faible für Griechen. Die Bilder, die am Kupfergraben entstanden sind, sind phantastische Kunstwerke, ein unendliches Spiel aus Licht, Linien und Farben, auf große Leinwände gezogen anmutend wie abstrakte Gemälde. An denen hätte ein Maler unendlich lange sitzen müssen. Gert hat sie fotografiert. Es geht ja um das Bild an sich. Warum zeichnen oder malen, wenn man es fotografieren kann. Die Kunst ist das Sehen. Die Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, das andere nicht sehen können. An diesen Bildern, die sich im Kupfergraben spiegeln, laufen täglich Tausende von Menschen vorüber, ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Man muss stehen bleiben, um sie sehen zu können. Das sagt jede seiner Fotografien.

Das Wasser hat ihn schon als Student fasziniert, und die Inseln waren nicht weit weg von Kreuzberg aus, »man konnte in zehn Minuten zu Fuß zum Tempelhofer Flughafen laufen und mit der Malev über Budapest für wenig Geld nach Kreta fliegen.« Und dann mit dem Bus weiter nach Matala an die Südküste. »Wenn man da ankam, musste man sowieso erst mal sieben Tage bleiben, weil der Bus fuhr nur einmal die Woche.« Die Höhlen von Matala waren in den Sechzigern eine berühmte Hippieresidenz, es gab eine sichelförmige Bucht mit feinem Sand und weißen, runden Felsen, von denen man ins türkisfarbene Wasser sprang. Alle waren nackt und schön und immer gut gelaunt. Die Griechen saßen in der Taverne und spielten Schach und Tavli. »Heute kann man da nicht mehr hinfahren. Aber damals war das wunderschön, diese Häuschen auf den Terrassen vor dem Meer. Sie haben alles abgerissen und Hotels gebaut. Das hat mich unheimlich geärgert.«

Jedenfalls brauchte man 1967 nicht viel zum Leben, auf Kreta noch etwas weniger als in Kreuzberg. Gert wohnte in einem Häuschen mit Blick auf die Bucht und zeichnete »in aller Ruhe« Entwürfe für diverse Architekturwettbewerbe auf Karopapier, »das konnte man damals noch an jedem Kiosk kaufen. So hätte es weitergehen können, ein Leben lang vielleicht.« Er lacht.

Aber auch das Kreuzberg der Siebzigerjahre mit seinen Cafés und Kneipen voller ausgeflippter Typen war ein Ort, an dem man durchaus gut leben konnte. Also hat Gert Lejeune Dirichlet 1984 zusammen mit acht Freunden ein Haus in der Bergmannstraße gekauft. Er hatte nicht danach gesucht, es war ein Zufall. »Für 750.000 Mark. Undenkbar heute!« Die kleine Werkstatt-Wohnung ist jetzt seine. »Sonst könnte ich von der Kunst nicht leben!« Ab und zu verkauft er ein Bild. Ansonsten genießt er den Herbst des Lebens, geht spazieren, bleibt stehen, fotografiert, spielt nachmittags eine Partie Schach mit Peter und dreht abends noch eine Runde durch das Viertel. Kehrt, auf der Suche nach den Relikten des alten Kreuzberger Trampelpfades noch einmal im Heidelberger Krug ein, wo die dicke ZEIT am Haken hängt und das Glas Primitivo weniger kostet als der Kauf der Zeitung.

Und manchmal trifft er Leute von früher, aus der Nulpe zum Beispiel, wo er so oft Schach spielte. »Im Schachclub war immer so eine feierliche Stille, das war irgendwie ungemütlich. Und alle Spieler, denen das im Club auf die Nerven ging, landeten irgendwann in der Nulpe. »Eigentlich bin ich nur durch das Schachspielen in Kreuzberg gelandet. Die Nulpe war toll. Schade, dass es die nicht mehr gibt.«

Gert muss lächeln, wenn er in seinen Erinnerungen kramt, manchmal auch laut lachen. »In der Nulpe, gleich beim Eingang, da saß jeden Abend Rudi Lesser, der Maler. Wenn jemand hereinkam, der Schach spielen konnte, zog ihn der Rudi am Schlafittchen zu sich an den Tisch. Der musste dann eine Partie mit ihm spielen.« Meist wurde Blitzschach gespielt. Wer verlor, musste aufstehen. »Oft saß Toni mit am Tisch und kommentierte in seiner etwas eigenen Art das Spiel. Wenn einer den Springer anfasste, dann sagte er: Und jetzt kommt er wieder daherjeridden auf dem Hinterweg über Peru!« - Toni trug immer eine dunkle Brille, eigentlich kannte ihn niemand richtig. Aber von Schach schien er etwas zu verstehen.

»Einmal kam ein Fremder herein und forderte Fauwaz, unseren Palästinenser, heraus: Du spielst jetzt mit mir um 100 Mark oder wir gehen vor die Tür! Der Palästinenser entschied sich gegen die Prügelei und für das Spiel, obwohl 100 Mark eine Menge Geld war. Toni setzte sich zu denen an den Tisch und fing an zu kommentieren. Irgendwann sagte Fauwaz: Wenn du nicht sofort aufhörst, dazwischen zu quatschen, kratz´ ich dir die Augen aus! Da nahm Toni die Brille ab und knallte sein Glasauge auf das Schachbrett: Junge, das haben schon janz andere jemacht! In der Nulpe war es plötzlich still, das Spiel wurde unterbrochen und auch nicht mehr fortgesetzt.«

Es braucht nicht viel zum Leben: einen Schaukelstuhl, ein paar nette Kneipen, eine Fotokamera. Ein Schachspiel natürlich. Und ein paar Erinnerungen vielleicht, über die man lachen kann.






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