Juni 2023 - Ausgabe 250
Reportagen, Gespräche, Interviews
Fliegende Schweinchen, gesummte Glühwürmchen von Eckhard Siepmann |
Bilder: Holger Groß Es ist Freitag, es ist 17.30 Uhr, die Sonne steht schon etwas schräg am Kreuzberger Himmel, das Boulodrom am Landwehrkanal quillt über von fiebernden Spielern und schlendernden Passanten. An die siebzig eisenkugelbewehrte Menschen aller Altersklassen und Hautfarben wuseln aufgeregt durcheinander. Die einen üben sich ein, die anderen melden sich an, wieder andere haben sich lange nicht gesehen und umarmen sich. Gespielt wird Supermêlée: Es gibt keine zuvor verabredeten Teams, sie werden digital ausgelost. Da treten dann Vietnamesen gegen Schweizer an, Anfänger gegen ehemalige Deutsche Meister, agile Kinder gegen humpelnde Oldies. Und diese Asymmetrie ist gewollt, es werden neue Fans für das alte Spiel gewonnen. »Punkte macht«, erläutert der alte Hase Manfred einigen Unerfahrenen, »wer die Boules, die Eisenkugeln, am nahesten an der kleinen farbigen Holzkugel platziert, dem so genannten Schweinchen oder auch der Sau. Einzelheiten erfahrt ihr während des Spiels.« Kurz nach 18 Uhr ein gellender Schrei: Ausgelost! Alles drängt nun zu dem Plakat, das die Teams und die Bahnnummern anzeigt. Dann trotten alle zu ihrer ausgelosten Bahn, ein wildes Gemisch aus Schicksalsergebenheit und Kampfentschlossenheit zeichnet sich in den Gesichtern ab. Die Teams begrüßen sich per Handschlag, dann tönt es beschwörend von allen Lippen: »Schönes Spiel!« Es geht los. Die Schweinchen fliegen, die Boules fliegen, rollen, krachen aufeinander, Funken sprühen. Spatzen schießen in Erdnähe quer über die Bahn, Schwäne schaukeln gelassen auf der dunklen Flut, Pärchen knutschen, Möwen kreischen. »Papadam papadam!« ruft der Inder mit seinen trockenen Fladenbroten. »Allez, allez«, Cyril feuert Carmen an, »ein Schuss, du Jurkenhobel!« meckert Harald. Die 9jährige Ferida macht unermüdlich Radschläge, ihre hüftlangen braunen Haare flattern im Wind, der rothaarige Oliver in kurzer Hose tanzt wie jeden Tag vor dem Klohäuschen seine einsame Choreographie. Eine ältere, sorgfältig geschminkte Dame aus Österreich wendet sich an den neben ihr Sitzenden, der einen Pernod trinkt. »Pardon, darf ich etwas fragen? Begreifen Sie, warum zivilisierte Menschen ein stundenlanges Vergnügen am Werfen von Kugeln in die Luft haben?«- »Ich glaube schon.«, sagt der Pastis-Freund und Philosoph, der heute nicht spielt, weil er es mit dem Rücken hat. Der geheime Zauber des Boulespiels, behauptet er mit wichtigem Blick, gründe in einem konzentrierten Balanceakt: in einer Art Brückenbau zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Geist und Materie, zwischen Vorstellungskraft und Gravitation. »Aber...«, wendet die Dame ein, »ist denn nicht unser Alltag sowieso schon voll von diesen Koordinierungen? Wenn ich meine Arbeit...« - »Absolut«, unterbricht der Nachbar und schaut selbstverliebt drein. »Im Alltag bemerken wir diese Prozesse gar nicht, sie sind versteckt in Mühen und Funktionsketten. Hier aber sind sie selbstbezüglich, hier haben sie die Leichtigkeit des spielerischen Wettstreits.« Dann wird er konkreter: »Sehen Sie die Werferin dort in dem roten Top? Sie konzentriert sich, sie »liest« die Unebenheiten des Bodens und entwirft im Kopf eine Wurfparabel für die Kugel, hoch oder niedrig. Und gleichzeitig stimmt sie die Bewegungen ihres Körpers ein auf diesen geistigen Entwurf. Wenn sie es nicht schafft: Oh Mist, die Kugel rollt ins Aus!« Der Dichter Friedrich Schiller hatte vielleicht Ähnliches wie der Philosoph vom Paul-Lincke-Ufer im Sinn, als er 1793 mit einer Gänsefeder kritzelte: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«. Erscheint der Satz nicht wie ein Heiligenschein über dem Kopf des imaginären Gesamtboulers? Allmählich wird es dunkel, und die Drehung der Erde lässt die Sonne hinter den Flachbau auf der anderen Kanalseite sinken. Thorsten und Julien befestigen vier Meter hohe Stangen mit Leuchten zwischen den Bahnen, ein allgemeines Ahhh! begrüßt das aufflammende Licht. Auf dem Boden zeichnet sich durch die wuselnden Spieler ein unruhiges Schattenreich ab, ein Kreuzberger Hades mit dem Landwehrkanal als Lethefluss und mit Dilek, dem Vertrauensmann für Durstige, als düsterem Fährmann Charon, der die Seelen der Toten für einen Obolus - eine Flasche Berliner Kindl - über den Fluss übersetzt in die Unterwelt. Nach zwei Durchläufen des Spiels stehen die Halbfinalisten fest. Trostsuchende Ausgeschiedene und gespannte Spaziergänger umsäumen die Endspiele, feuern an und bewundern lautstark. Olaf verliert und gönnt sich ein Paulaner. Die Sieger werden gefeiert, sie holen sich ihre Prämie ab, und nun bricht sich ein allgemeines Trinken und Quatschen Bahn. Die Besiegten finden klare Gründe für ihre Niederlage. »Der Boden war heute so trocken!«- »Hatte einfach schon zu viel intus!« - »Wie hat das hier eigentlich alles angefangen?« fragt eine französische Studentin. Rainer, genannt René, Christian, genannt Grille, und Wolfgang, genannt Sporri, beginnen zu erzählen. Die Erinnerung gibt ihren Augen etwas Träumerisches, das sie durch Lässigkeit zu überspielen versuchen. »Den Anfang machte Martin Teufel, der kam aus Württemberg nach Kreuzberg, fand eine Wohnung in dem Haus gleich hier.« Grille zeigt über die Schulter. Martin hatte in den 70er Jahren in seiner Heimat den stationierten französischen Soldaten beim Boulespielen zugesehen und Gefallen an dem Spiel gefunden. Er trommelte ein paar Freunde zusammen, dolles Spiel, schafft euch Kugeln an! Und da drüben, zwischen seinem Haus und dem Zaun, entstand Ende der 70er Jahre dann die erste Boulebahn.« Als der Schulbau neben Teufels Erdgeschosswohnung abgerissen wurde, ergab sich eine Brache, auf der viel mehr Leute spielen konnten. Das ging allerdings nicht lange so, der Bezirk beauftragte einen Architekten, das Areal zu einem Ort mit viel Natur zu machen, für Kreuzberger Kinder. »Die wuchsen ja in einer asphaltierten Wirklichkeit auf, die sollten wissen, was ein Regenwurm ist.« - »Oder ein Marienkäfer.« - »Oder eine Pusteblume.« - »Wir halfen bei der Gestaltung des Kinderspielplatzes und hatten bei dem Architekten einen Stein im Brett.« - Anfang der 80er Jahre kam der Bezirk auf die segensreiche Idee, den Straßenabschnitt vor dem Kindertreff autofrei zu machen, und da witterten die Bouler ihre Chance. »Wir haben den Architekten überredet, den Freiraum so zu gestalten, dass dort einige Spielbahnen entstehen.« - »Ich weiß noch«, erinnert sich René, «wie ich den bekniet habe: Bitte kein Asphalt! Bitte keine Bänke in der Mitte!« Die Voraussetzungen für einen der atmosphärisch dichtesten Aufenthaltsplätze Kreuzbergs waren geschaffen. Während der langen Umbauphase 1987/88 wichen die Boulefreunde zu den Franzosen in Tegel und auf den Bolzplatz am Chamissoplatz aus, der damals noch unsaniert war. Dort trafen sie auf ein Boule-Grüppchen, das wenig Wert auf Taktik legte und das Kugelwerfen eher als Teil eines bohemehaften und unsinnsfrommen Weltverhältnisses ansah. Die Uferleute schüttelten den Kopf und brachten den Chamissos die Feinheiten des Spiels bei – so wie sie selbst es von den Franzosen gelernt hatten. 1988 war der Umbau am Ufer offiziell beendet – inoffiziell wurden nun in Eigeninitiative hölzerne Einfassungen und Sitzmöglichkeiten errichtet, ohne groß beim Bezirksamt nachzufragen. Es wurde ein boule-affiner Bodenbelag herbei geschafft, es wurden Rosen gepflanzt und Halterungen für ihr Wachstum angebracht. Umsicht, Einsatzfreude, Sinn für Ästhetik und solidarisches Handeln prägten von Anfang an die Praxis der Boulisten am Paul-Lincke-Ufer. Der Bezirk sah es so: Besser die jungen Leute werfen Eisenkugeln ins Leere statt Steine auf Polizeiautos. »Und diese Hoffnung haben wir schamlos genutzt!« Es ist Nacht geworden. Holde Marihuanadüfte orientalisieren die Berliner Luft, Pilsner, Pernod und Pastis entgrenzen die Fantasie. Die hohen Lampenlichter beginnen zu tanzen wie Glühwürmchen. Harald, der Urkreuzberger, ist ausgeschieden und leicht blau und schimpft über den Weltenlauf. Er legt sich auf den langen Gerätekasten, wirft noch einen Blick zu den wie Leuchtkäfer tanzenden Lichtern im Himmel und auf Erden und schläft ein. Träumend sieht er einen untersetzten Mann, der schlendert summend am nördlichen Ufer des Landwehrkanals entlang. Ab und zu bleibt er stehen, zwirbelt an seinem Kaiser Wilhelm - Schnauzbart und beginnt aufs Neue zu summen und zu dirigieren. Als er an der Forsterstraße ankommt, werden seine Augen auf einmal weit. Er starrt auf die glitzernden Fluten des Landwehrkanals und beginnt, im Takt leicht mit dem Kopf nickend, zu singen: »Glühwürmchen, Glühwürmchen flimmre, flimmre, Glühwürmchen, Glühwürmchen schimmre, schimmre…« Harald erwacht, weiß gar nicht, dass er geträumt hat und wendet sich an die junge Frau mit dem Rotwein neben ihm: »Der Paul Lincke hat doch auch die Berliner Nationalhymne komponiert!« Harald verfällt aufs Singen: »Das ist die Berliner Luft Luft Luft, so mit ihrem holden Duft Duft Duft«, die Nachbarin versteht überhaupt nichts, Harald lacht. »Der Lincke-Marsch, verstehste, passend zu Luft in Dosen mit dem Brandenburger Tor vorne drauf und zu den großen bunten Kunststoffbären, die früher überall dumm rumstanden.« Die Nachbarin nickt matt und grüßt den vorbeikommenden Rubén, der ihr gefällt. |