Juli 2023 - Ausgabe 251
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Der Yeti vom Kreuzberg von Horst Richter |
Der Roland ist gestorben. Roland aus der Schenkendorffstraße. So etwas tut einem ja immer leid, und das kommt ja jedes Mal - genau wie Weihnachten - so plötzlich und unerwartet. Die Leute kommen immer am 24. um 17 Uhr, um den Wein für die Weihnachtsgans zu kaufen, stöhnt Peter vom Weing´schäft jedes Jahr aufs Neue. Roland Stegemann, der Künstler, hat dort öfter einmal das Schaufenster gestaltet und die verrücktesten Sachen dort reingebaut: den Globus mit der kleinen Figur eines Surfers auf dem Atlantik; ein Laufrad aus Schrott; eine Skulptur auf einem Sockel aus drei dicken Bänden des Kapitals von Karl Marx. Also Weihnachten kommt immer unerwartet. Genau wie der Tod. Und das tut einem dann leid, wenn man wieder einmal in Eile gewesen war, wenn man Roland auf der Straße traf und er einen unbedingt von einem seiner neuen Projekte erzählen musste. Wenn er einen zum Wein einlud, praktischerweise gleich hier beim Weinhändler mit dem schönen Schaufenster. Und wenn man wieder gesagt hatte: »Nächstes Mal, ich hab es eilig!« Und dann gibt es plötzlich kein nächstes Mal! Jetzt ist er also eingeschlafen, der Roland. Und Runkel ist auch schon gestorben. Horst Runkel, der die Neue Kreuzberger Zeitung gemacht hat. Jetzt bleibt das Rätsel ungelöst: Ob der Runkel mit seinem Yeti in Ausgabe 41 wirklich unseren Roland gemeint hat. Ich habe immer vergessen, Roland danach zu fragen. Jetzt ist es zu spät. Für eine zoologische Sensation ersten Ranges sorgte der bekannte Amateur-Botaniker Kreuzberg Horst (32). Nach mehreren vergeblichen Expeditionen gelang es ihm kürzlich im ersten Neuschnee einen Schnee-Menschen auf dem Kreuzberg zu fangen. Der Schnee-Mensch, auch Yeti genannt, ist gewöhnlich im Himalaya beheimatet. In einem tibetanischen Kloster verwahren Mönche eine präparierte Kopfhaut eines solchen Exemplars. Auch in der neuen Welt hat dieser Halbmensch bis auf den heutigen Tag überlebt. Der Affenmensch, der auf den Namen Roland hört, soll bereits lesen können. Er wird von seinem Besitzer in einem geheimen Keller in der Schenkendorffstraße in Kreuzberg verborgen gehalten. Wie aus Feministinnenkreisen verlautet will die 19-jährige Roswitha Hartherz Roland lieben. Damit will sie beweisen, daß der Vormensch in einer matriarchalischen Gesellschaftsordnung gelebt hat. Dagegen hat der Tierschutzverein Einspruch erhoben... So stand es 1982 in der Kreuzberger Neuen Zeitung. Und ich frage mich jetzt die ganze Zeit, ob es ein Zufall war, dass der Yeti Roland hieß und wie Roland in der Schenkendorffstraße wohnte. Und ob der Runkel den Roland nicht leiden konnte. Ich mochte ihn. Und es tut mir leid um jedes Glas Wein, das wir nicht zusammen getrunken haben. |