Kreuzberger Chronik
Juli 2023 - Ausgabe 251

Kreuzberger
Lea Bürkle

Ich bin schon über jede Treppe und jede Dachpappe gelaufen


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von Edith Siepmann

Titelfoto: Holger Groß

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Hoch über den Straßenschluchten klettern drei junge Frauen über schräge Dachflächen, bröckelnde Mauern und steile Leitern. Ihre schwarzen Silhouetten zeichnen sich vor der Skyline der Stadt ab. Sie kennen jedes Dach, jede Wohnung zwischen Chamissoplatz und Südstern und ihre Bewohner dazu. Die schweren Kehrleinen mit Bürste und Kugel geschultert, verlassen Lea, Sarah und Celine durch eine enge Luke den Himmel über Kreuzberg. Im Erdgeschoss eines Hinterhauses der Blücherstraße liegt ihr Büro. Dort gibt es schwarze Regale und Schränke, schwarze Stühle, eine schwarze Garderobe und eine weiß gekachelte Dusche. Die ist wichtig, um all das Schwarze, das während des Tages an ihnen hängengeblieben ist, zum Feierabend wieder abzuwaschen. Die Frauen üben einen uralten Beruf aus, mit dem sich Mythen verbinden und der die Menschen seit dem Mittelalter vor Brand und Unheil schützt - und der braunschwarzen Ruß an Haut und Kleidern hinterlässt.

Auf dem Dach: Sarah, Lea und Celine (Foto: Holger Groß)





























Im Büro sitzt Yvonne Janke und erwartet ihre »Mädels«. Janke ist die vom Senat bestellte Bezirksschornsteinfegerin im Kehrbezirk 0214 und damit die offizielle Nachfolgerin des langjährigen Schornsteinfegers Michael Schmidt. Seit acht Jahren ist sie mit ihren Mitarbeiterinnen zuständig für die Sicherheit der Menschen zwischen Schwiebusser- und Bergmann-, Körte- und Lilienthalstraße. Der Kehrbezirk folgt nicht den Bezirksgrenzen, sondern hat die Form eines Vogels - mit dem Chamissoplatz als Schwanzfeder und der Jahnstraße als Schnabel. Polizei, Wasserturm, Rosegger- und Freiligrathschule, Fichtebunker und die Kirche am Südstern sind mit enthalten.

Der reine Frauenbetrieb in Kreuzberg ist eine einmalige Besonderheit in einer traditionellen Männerdomäne. Fünf Frauen, allesamt geborene Berlinerinnen, sind es, die in schwarzer Innungskluft mit goldenen Knöpfen und Zylinder auf dem Kopf die Haustreppen hochsteigen, auf den Dächern balancieren und auf Schornsteine klettern, wo sie Kugelgewicht und Bürste ins Innere hinunterlassen und unter typischen Kratzgeräuschen den noch vorhandenen Ruß aus alten Kohleöfen oder modernen Holzkaminen abkratzen - über ihnen nur die Vögel und der Himmel. Dann wieder hinunter zur Schornsteinsohle in den Keller, Klappe auf, Ruß raus. Hände und Gesicht sind schwarz. Manchmal liegt eine tote Krähe da unten, vergiftet vom Kohlenmonoxid.

Feuer ist das Element, das wärmt, Essen gart, Metall formbar macht. Seit der Nutzung des Feuers durch den Homo erectus vor einer Million Jahren und der Kunst, einen Funken selbst zu entfachen durch den Homo sapiens vor 30.000 Jahren entwickelten sich die Menschen sprunghaft weiter und besiedelten neue, kalte Lebensräume. Zuerst loderte es offen in der Hüttenmitte, der Rauch zog über die Tür oder das Deckenloch ab. Im Mittelalter wurden die ersten Rauchröhren gebaut. Lea schaut in ihren Unterlagen aus der Schulzeit nach: »Ab dem 15. Jahrhundert gab es steinerne Rauchfänge, und ab 1727 durch Erlass des preußischen Königs die Kehrpflicht und die Kehrbezirke.« Immer wieder waren ganze Straßenzüge und sogar Dörfer abgebrannt. Der Schornsteinfeger, der den brandbeschleunigenden Ruß aus den Kaminen beseitigte, konnte diese Katastrophen verhindern. Daher rührt auch sein Ruf als Glücksbringer. Denn war einer der ziehenden Schornsteinfeger im Dorf, hatte das Dorf Glück.

Sarah ist immer noch voller Ruß. »Es gibt Leute, die streichen mit den Fingern über meinen Arm, weil sie glauben, das bringt Glück.« Der Mythos hält sich. Lea mit ihren blonden Haaren und dem Grübchen auf der Wange erzählt: »Eltern geben die alte Geschichte vom Glück an die Kinder weiter und ermuntern sie, uns anzufassen. Wir sind eigentlich überall willkommen, und das macht einen den ganzen Tag glücklich!«

Lea Bürkle, vor 27 Jahren im Urban-Krankenhaus geboren, ist bereits Schornsteinfegermeisterin. »Ein Freund meiner Eltern war Schornsteinfeger. Bei dem hab ich ein Praktikum gemacht und dann wusste ich: Das ist es!« Es ist die »Super-Mischung« aus Draußensein, Büro-arbeit und sozialer Ansprache. Außerdem liebt sie es, die Stadt von oben zu sehen. »So ganz ruhig ist es dann, eine so andere Sicht. Und ich liebe die Gegend hier. Die Häuser sind so schön und die Leute nett und interessant. Meine Lieblingsstraße ist die Fidicinstraße. Sie ist hell, liegt hoch, da schaut man über die ganze Stadt!« .

Drei mal im Jahr machen die Schornsteinfegerinnen ihre Kehrtouren über die Dächer. »Wir können ja über ganze Straßenblocks laufen, das ist hier im Viertel der Vorteil.« Doch die Klettereien über die Dächer dürfen nie zur Routine werden. »Wir müssen immer gucken, gucken, auf den Laufstegen, den Leitern, damit nichts passiert. Und man muss schwindelfrei sein! Das ist absolut die Voraussetzung für diesen Beruf.«

Ihre Chefin, Yvonne Janke, stammt aus einer regelrechten Schornsteinfegerdynastie. Sie ist aufgewachsen im Stadtteil Mitte und im Braunkohle-Schwefelgeruch - eine echt Berliner Göre, deren Großvater, Vater, Mann und Schwager schon Schornsteinfeger waren und sind. Als Teenager kehrte sie der Schule den Rücken und beschloss, auch Schornsteinfegerin zu werden. Sie konnte die Männer überreden und begann ihre Lehre, während die DDR gerade Geschichte wurde.

Celine aus Neukölln ist die Jüngste. Lange hatte sie keine Ahnung, was sie machen sollte. Dann stieß sie auf die Schornsteinfegerei. »Es war Liebe auf den ersten Blick. Und die dauert lebenslang!« beteuert sie. Noch trägt sie ein flottes Lehrlingskäppi über den langen roten Haaren, erst als Meisterin darf sie es gegen den Zylinder tauschen. Jana, die fünfte im Bunde, ist gerade im Mutterschaftsurlaub.

Dieses alte Lied - Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? - Niemand! - Und wenn er kommt? - Dann laufen wir! -, das war einmal. Es stammt aus dem 19. Jahrhundert, als im Tessin arme Familien ihre kleinen Jungen an durchziehende Schornsteinfeger verkaufen mussten, die sie in der Schweiz und Deutschland die engen Schornsteine hochklettern und den Ruß abkratzen ließen. Viele Kinder kamen dabei zu Tode. Heute hat keiner mehr Angst, der »schwarze Mann« ist ein Glücksbringer geworden - und immer öfter eine Frau! »Chim chiminey, Chim chiminey, Chim-Chim-Cher-ee, so klingt des Kaminkehrers Glücksmelodie. Cim-Chimeney, es ist bekannt, das Glück, das färbt ab, drückt uns einer die Hand...«. Den Mary Poppins-Ohrwurm aus den Sechzigern bekommen sie immer wieder hinterhergesungen.

Die regelmäßige »Feuerstättenschau«, bei der an den Gasthermen der Kohlenmonoxidausstoß gemessen wird oder die letzten Kachelöfen inspiziert werden, findet unabhängig von den Kehrtouren statt. Dazu müssen die Frauen von den Dächern herunterkommen und die Wohnungen der Kreuzberger betreten. »Und gerade die Leute ganz oben sind oft nicht zuhause. Das nervt schon, wenn du mit dem ganzen Gerät da hoch steigst und dann ist keiner da.« Beim dritten mal gibt´s Ärger, dann kostet es Geld, sagt Yvonne. »Aber eigentlich sind wir immer willkommen.« Auch deshalb, weil die Schornsteinfegerinnen zuhören können, bei traurigen ebenso wie bei schönen Geschichten.

»Da ist die Oma Müller, die von ihrem verstorbenen Mann erzählt und seit Wochen mit niemandem mehr geredet hat. Dann brauchste eben ne halbe Stunde länger! Aber das mach ich gern, da steht schon Kaffee und Kuchen auf´m Tisch und dann erzählt se.« Lea mag die alten Berlinerinnen. Die neuen, frisch Zugezogenen stehen manchmal noch mit offenem Mund da, wenn plötzlich eine junge Frau und kein Schornsteinfeger vor der Tür steht. »Aber sie gewöhnen sich langsam dran, wir sind auf dem Vormarsch!« Vielleicht auch, weil man Frauen eher vertraut. »Wir sind ja im Privatesten der Leute, in ihrer Wohnung.« Letztens machte eine Dame nur in Unterhose auf: »Ick komm´ gerade aus der Dusche, aber kommse rin, wir kenn´ uns ja.«

Lea liebt es, wenn berlinert wird. »Haste schon jehört? Erna aus´m Dritten hat jeputzt, und da hat se sich det Been vadreht. Nu hat se´n Jips.« Auch die Chefin schwärmt: »Das hat alles noch Charme und Seele hier«, der Bergmannkiez sei noch intakt. Es gebe noch viele private Hauseigentümer, die selbst in ihren Häusern wohnen und keine hohen Mieten verlangen. Anders als im Graefekiez, wo sich die Holdings breit gemacht hätten. Auch viele Altmieter seien geblieben, Arbeiter neben Politiker, Schauspielerin neben türkischer Familie. »Die sind immer sehr gastfreundlich, mit Baklava und Tee. In der Wohnung sind die Frauen der Chef, da kuschen die Männer.«

Lea erzählt von den Schulungen. »Wir Schornsteinfeger sind eine kleine Gruppe in Berlin, wir kennen uns alle und bilden uns tierisch was auf unseren Beruf ein. Wir sind gefragt, und wir gehen mit der Zeit.« Energieberatung ist schon fast Standard für einen Kaminkehrer. Wegen des neuen Gebäudeenergiegesetzes herrscht gerade große Aufregung, alle wollen jetzt neue Thermen einbauen. »Da sollte man einfach mal die Ruhe behalten, da wird und muss noch vieles angepasst werden, auch an die besonderen Bedingungen im Altbau.«

Was aber wirklich nervt, das sei die Papierarbeit. »Ich sitze viel zu viel im Büro.«, klagt die Chefin. »Ich bin eigentlich Schornsteinfegerin geworden und nicht Verwaltungsrechtlerin. Die Paragraphen prasseln nur so auf mich runter. Und das wird immer mehr.« Yvonne Janke verzieht kurz die Miene, dann nimmt sie ihre Mädels in den Arm und lacht. Das Firmenklima leidet nicht unter den neuen Vorschriften. Es herrscht gute Laune bei den Schornsteinfegerinnen. Lea könnte den Betrieb einmal übernehmen, meint die Chefin. Ihr Sohn nämlich interessiert sich nicht sonderlich für die Weiterführung der Janke´schen Familientradition. Der würde lieber Profifußballer oder Influencer werden.


Im Hof: Lea Bürkle, Yvonne Janke und Sarah Braune (Foto: Edith Siepmann)









Alle sieben Jahre wird der Kehrbezirk neu vergeben, jedes Mal müssen sich die Schornsteinfeger neu bewerben. Das erzeugt Druck. Doch vor kurzem wurde Schornsteinfegermeisterin Janke vom Senat neu bestellt. Bezirk 0214 bleibt also weiter fest in weiblicher Hand. Die Ankündigungen mit dem Logo der drei Schornsteinfegerinnen werden auch künftig in den Hausfluren hängen. Und auch der Ohrwurm bleibt im Kopf hängen: Chim chiminey chim chim cher-ee, a sweep is as lucky as lucky can be. When you´re with a sweep you´re in glad company!




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