Juli 2023 - Ausgabe 251
Geschichten & Geschichte
Die Berliner Liedertafel von Horst Zimmermann |
Mit Wein, Wein und Gesang Hoppla, fehlt da nicht das Weib? Oder, um es zeitgemäßer zu formulieren: die Frau? Und in diesem Fall sogar gleich mehrere von ihnen, denn es geht hier um einen Männerchor. Einen Kreuzberger Männerchor. Pardon für die Ungenauigkeit, denn als dieser 1884 gegründet wurde, gab es Kreuzberg noch gar nicht. Der Bezirk erhielt seinen Namen erst 1920. Damals, also 1884, kamen aus zwei Chören Berlins Tenöre, Baritone und Bässe zusammen und gründeten die Berliner Liedertafel. Der Name hatte Geschichte, denn schon 1809 gründete ein Intimus Goethes, Carl Friedrich Zelter, Leiter des Gemischten Chores Sing-Akademie zu Berlin, auf Wunsch des preußischen Königs einen Männerchor mit eben diesem Namen. Mann sang und tafelte – daher der Name – im Kreis gebildeter Bürger. Zehn Jahre später kam die »Jüngere Liedertafel« hinzu, die wohl einen höheren musikalischen und demokratischeren Anspruch hatte, jedoch wie die »Ältere« im Englischen Haus, einem noblen Restaurant in der Mohrenstraße 49, liederlich tafelte. Ob Reste dieser Vereine mit in die Liedertafel von 1884 eingingen, lässt sich nicht belegen. Vermutlich wurde nur der Name übernommen. Hier wie dort aber stärkten heroische Lieder das preußische, respektive deutsche Nationalbewusstsein: 1819 nach den »Befreiungskriegen« sowie nach 1871, dem Jahr des »glorreichen« Sieges über Frankreich. So, wie der Nationalstolz die männliche Brust schwellen ließ, so schwoll auch die Mitgliederstärke der Chöre mit der Zeit an. War Zelters Tafelrunde noch ein illustrer kleiner Kreis, kamen zu Kaisers Zeiten unter der Leitung von Musikdirektor Adolf Zander bereits über 250 Sänger zur Liedertafel zusammen. Sie gehörte damit zu den größten Männerchören in Deutschland. In ihrer heute fast 140-jährigen Geschichte spielten nicht nur der Gesang, sondern auch das Reisen eine große Rolle. Bereits wenige Jahre nach der Gründung organisierte der Chor eine große Italienreise. Im Andenken an diese wurde sie 1999 noch einmal nachvollzogen. In neuerer Zeit ging es dann in die USA, nach Japan, Südafrika und ins Baltikum. Entsprechend kommen regelmäßig Chöre aus aller Welt zum Besuch nach Berlin. Begegnungen, die Freundschaften über die Grenzen hinweg begründen. »Früher gab es für Reisen mal Zuschüsse vom Chorverband oder sogar vom Staat. Doch diese Zeiten sind vorbei. Jetzt muss jeder selbst bezahlen«, berichtet der Tenor Wolfgang Görsch. Im Chor-Archiv, das er behütet, befinden sich die seit Anbeginn der Liedertafel regelmäßig erschienenen Vereinsnachrichten, seit den 20er-Jahren »Merker« genannt. Und natürlich auch alte Mitgliederlisten. Ein Schatz für jeden Geschichtsforscher. Jeden Donnerstagabend um halb acht treffen sich die Herren zur Probe im Nachbarschaftshaus in der Urbanstraße. Das 1914 als Offizierskasino erbaute prächtige Haus ging 1924 als Vereinsheim an die Liedertafel über. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte die Rote Armee das lädierte Gebäude. Schließlich durfte der Chor wieder einziehen, der jedoch die Kriegsschäden finanziell nicht bewältigen konnte. So wurde das heute nobel ausgestattete Haus an den Verein der Nachbarschaftshilfe übereignet, der den Sängern seit 1955 den Saal für die Probenarbeit zur Verfügung stellt. Der große Saal, heute mit einem speziellen Akustikputz ausgestattet, würde noch immer Platz genug bieten für die 240 Sänger. Doch so viele sind es bei der Liedertafel schon lange nicht mehr. Die beiden Weltkriege nagten an der Mitgliederzahl, die mühsam wieder aufgebaut werden musste. Als Wolfgang Görsch 1956 in den Chor eintrat, waren es immerhin schon wieder 180 Sänger. Doch der Mauerbau kostete auf einen Schlag wieder 30 Männer, und nach 1968 wurde das Singen im Chor, und besonders in einem Männerchor, eher mit Naserümpfen honoriert. Neue Mitglieder zu finden war schwer, was zur Folge hatte, dass die Liedertafel – wie so viele Vereine – alterte. Die Corona-Epidemie tat ein Übriges dazu. Heute ist die Runde auf unter 40 Mitglieder geschrumpft. Und so sind die Sängerknaben wieder auf der Suche nach - na was wohl? -: nach Männern! Dabei verfügt der Kreuzberger Männerchor über ein abwechslungsreiches Repertoire, das von Vincent Jaufmann, der das Ensemble seit 2006 leitet, einstudiert und bei vielfältigen Auftritten mit Laune präsentiert wird. Dazu gehören die schon seit jeher beliebten romantischen Kompositionen von Felix Mendelssohn-Bartholdy und Franz Schubert aber auch Modernes und Popiges z.B. von Marius Müller Westernhagen. Zum Vereinsleben gehören neben den Reisen und anderen vielfältigen Aktivitäten auch Feste, wann immer sich ein Anlass bietet. Und da wird selbstverständlich – schon dem Namen zur Ehre – ausgiebig getafelt, wenn auch etwas zünftiger als zu Carl Friedrich Zelters Zeiten. Im parkähnlichen Garten des Nachbarschaftshauses wird gegrillt und zum Neujahr gibt es ein deftiges Eisbein. Aber ganz ohne Weib - Pardon - Frau, geht es bei der Berliner Liedertafel nicht. Ohne Sigrid Höhne-Friedrich bliebe den Herren nämlich glatt die Stimme weg. Als Stimmbildnerin sorgt sie für den guten Klang des Ensembles. Und auch die Partnerinnen der Sänger haben ein Wörtchen mitzureden beim regelmäßigen Damenkränzchen, bei Kaffee und Kuchen und im Förderverein sind sie vielleicht die heimlichen Leiterinnen des Ensembles: Mit Wein, Frau und Gesang! |