Kreuzberger Chronik
Februar 2023 - Ausgabe 246

Strassen, Häuser, Höfe

Der Trampelpfad


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von Michael Unfried

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Von Kneipen und Wirten

Der Kreuzberger Trampelpfad war in den Siebzigern und Achtzigern so bekannt wie die Bergmannstraße oder die Oranienstraße. Doch wusste niemand genau, wo diese legendäre Wegstrecke, von der in jeder Ausgabe der Neuen Kreuzberger Zeitung die Rede war, genau lag. Zwar gab es stets einen hübsch gezeichneten Lageplan in der Mitte des Blattes, auf dem zwischen Katzbachstraße im Westen und Manteuffelstraße im Osten, Schwiebusser Straße im Süden und Landwehrkanal im Norden verdurstende, langhaarige Männer auf der Suche nach Bier und Wein und Schnaps durch Kreuzbergs Straßen irrten, doch eine Straße namens Trampelpfad war ebenso wenig auszumachen wie eine mit dickem Filzer gezogene Linie, die zwischen all den Kneipen hindurch den Pfad der Glückseligkeit markierte. Es gab allerdings Hinweise darauf, dass der Trampelpfad durchs gefürchtete Bermuda-Dreieck und am Yorckschlösschen vorbei führte: »Für uns jedenfalls endet und beginnt der Trampelpfad morgens um 12 im Yorckschlösschen, wo die Letzten mit den Ersten ein gemeinsames Bier trinken.« Aber was sich zwischen 20 und 12 Uhr abspielte, blieb ein Rätsel.

In Ausgabe Nr. 12 sah sich der Herausgeber des Blattes deshalb gezwungen, die Identität des Pfades preiszugeben. Runkel schrieb: »Immer wieder kommen Einschreiben, Briefe und Depeschen in die Redaktion, deren Absender nur eines wissen wollen: Wo liegt eigentlich der Trampelpfad? Jede neue Anfrage ruft bei uns stundenlange Grundsatzdiskussionen darüber hervor, ob nun die Charlottenburger Kneipenkette am Savignyplatz, die Wilmersdorfer am Olivaer Platz, ob die Schöneberger Gaststätten oder gar die linken Kneipen Kreuzbergs diesen Titel für sich beanspruchen dürfen. Der Trampelpfad ist überall! Wo auch immer Menschen, getrieben durch ihre Bedürfnisse andere suchen, nachts mit unsicherem Schritt der Hoffnung nachlaufen, heute endlich das große Glück zu finden, wo Bräute einen ausgeflippten Typen kennenlernen können und umgekehrt, wo aber auf jeden Fall ein kräftiger Schluck Bier dazugehört, da liegt der Trampelpfad! Es gibt ihn in Berlin ebenso wie in Bochum oder Castrop Rauxel.«

So sympathisch die antilokalpatriotische Haltung des Herausgebers auch gewesen sein mag: In diesem Fall irrte er. Nirgends waren Dichte und Vielfalt der Kneipen größer als im sperrstundenfreien Kreuzberg der Siebzigerjahre. Schon die Namen der Etablissements, die am Rand des Trampelpfades lagen und dort eingezeichnet waren, lassen daran keinen Zweifel: Die Fallgrube, der Jodelkeller, die Schnapsnase, das Halleluja, der Bölk-Stoff-Keller, das Anfall, die Tauchstation und das Delirium in der Yorckstraße und das Tremens in der Möckernstraße: Überall hier war Nomen auch Omen. Überall trugen Lokale mit ihren klingendem Namen dazu bei, den Mythos Kreuzberg heraufzubeschwören und ins kollektive Gedächtnis der Berliner einzugravieren.

Selbstverständlich versäumte es Runkel auch nicht, die im Lageplan des Trampelpfades eingezeichneten Kneipen um eine kleine Spende zu bitten zur Finanzierung des Druckes. Auf den Seiten, die zunächst mit dem Titel »Reklame muss sein!« überschrieben waren und aus denen später die »Notizen vom Trampelpfad« wurden, verbreitete er Klatsch und Tratsch und neueste Nachrichten aus der Kreuzberger Kneipenszene. Treffsicher und in unverwechselbarem Stil hieß es da in Ausgabe 41: »Relativ neu ist das Hoffmann in der Großbeerenstraße. Im ehemaligen Chaos verkehren jetzt Intellektuelle jeden Kalibers. Die Wirtin schielt nicht.«

Als das Tremens, die Dependance des Deliriums aus der Yorckstraße, aufgab, hieß es in den Trampelpfadnotizen: »Der ehemals Rote Punkt gegenüber von Leydecke, zu Zeiten der Roten-Punkt-Aktionen so benannt (…) soll nun als Bilbao mit teilweise schon lebergeschädigten Pächtern – welch sympathische Aussicht – wieder von sich reden machen. Ein Kollektiv hat von Primo gepachtet und will nun endlich was draus machen. Man darf Wände bemalen, Musik machen, vorturnen und nachbeten und für Chile etwas in die auf der Theke stehende Lyons-Tea-Büchse werfen.« Auch gleich nebenan könnte es lustig werden, denn da »hat Lautsprecher-Bernie aus dem Leydicke eine Schwemme eröffnet. Wenn er ein bisschen freundlicher wird, kann man den ja auch gelegentlich besuchen!«

Die Trampelpfadnotizen waren eine Mischung aus Tresen-tratsch, sachdienlichen Hinweisen und gutgelauntem Klamauk. Das Blatt spiegelte den ständigen Wandel der Kreuzberger Tresenwirtschaft wider, bei dem die Protagonisten stets dieselben waren und nur die Kulisse wechselte. »Die spektakulärste Neueröffnung der Saison war zweifellos die des Orpheus. Daß das umsatzstarke Speiselokal überhaupt Pleite gehen musste, ist Kennern der Szene ein Rätsel.« Von Bernd Schulz ist in der Folge die Rede, der die Kneipe übernehmen wollte, ehemaliger Wirt der Nulpe und des Leierkastens. Auch der Name Jürgen Grage konnte im Zusammenhang mit dem Trampelpfad nicht fehlen. Die Klatschseite berichtete von einer rauschenden Ballnacht im Yorckschlösschen: »Als Jürgen, immerhin Kopf der Kneipe, anderntags den Kehraus sah und die übriggebliebenen Typen, wollte er gleich wieder gehen, um den brummenden Schädel auf die heimatliche Küchenbank zu betten.« – Man hatte im Schlösschen zu einer Ausstellungseröffnung geladen, »und alle, ALLE!, waren gekommen!« •


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