Kreuzberger Chronik
Februar 2023 - Ausgabe 246

Mühlenhaupts Erinnerungen

Rudi Lesser


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von Kurt Mühlenhaupt

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Zu meinen Freunden zählte Rudi Lesser. Rudi mußte als Halbjude emigrieren und lebte, solange es möglich war, als Künstler in europäischen Städten wie Kopenhagen, Den Haag und Paris. Als er vor den deutschen Soldaten flüchten mußte, landete er in New York, hatte Glück und fand als Malprofessor an der Columbia-Universität seine Beschäftigung. Mit sechzig Jahren kam er wieder nach Deutschland, vielleicht um hier zu sterben. Er bekam eine kleine Rente, die allerdings vorne und hinten nicht reichte, denn allein achthundert Mark brauchte mein lieber Rudi für Zigaretten, die er natürlich nicht alleine verqualmte. Rudi war ein Mensch, der nicht Nein sagen konnte, also rauchten alle um ihn herum mit.

Ich kam immer erst spät in der Nacht in den Leierkasten. Dann hockten wir zusammen. Manchmal saß Kerstin Bad dabei, ein junges Mädchen mit Liebeskummer. Vielleicht war sie deshalb so unmöglich gekleidet. Ihre Haare hatte sie vom Kopf rasiert, aber sie paßte zu uns beiden alten Männern. Ich konnte sie gut leiden, doch sie hing mehr dem Rudi am Arsch. Auch wenn es keine Liebe war, er war immer für sie da. Einmal redete ich von einer Ausstellung in Köln. Rudi machte deutlich, daß er gern mitkommen würde. (....) Doch eine Reise kostete Geld.

»Ich kann meine Mutter anpumpen«, sagte Rudi. Von ihr sprach er gelegentlich und ich wußte, daß sie wenigstens neunzig Jahre alt war. Da Rudi kein Gespartes hatte, wollte er sich bei ihr was borgen, denn ganz ohne Reisegeld konnten wir uns nicht auf den Weg machen. Nach einiger Zeit bekam ich einen Anruf von seiner Mutter. Sie sagte zu mir: »Herr Miehlenhaupt, der Rudi darf mitfahren. Ich gebe ihm tausend Mark, aber passen Sie auf meinen Sohn auf. Sie glauben nicht, was der alles anstellen kann. Er ist ein Schlingel.«

Ich versprach ihr aufzupassen, was mir sehr schwer fiel, denn ihr Sohn war schließlich fünfundsechzig Jahre alt und als Professor ein gestandener Mann, während ich das Fünfzigste noch nicht erreicht hatte. Aber eine Mutter hört eben nicht auf, sich um ihr Jungchen Sorgen zu machen. Rudi holte sich das Geld. Ich mußte mir ebenfalls was einfallen lassen, denn ich wußte nicht, ob mir die Galerie einen Vorschuß geben würde. Einer meiner Freunde verteilte Reklamezettel. Er brachte mir einige Pakete und ich versprach ihm hoch und heilig, sie zu verteilen. Wo, das ließ ich allerdings offen. So kassierte ich dafür und wir machten uns frohen Mutes auf den Weg nach Köln. Die Reklamezettel nahmen wir mit.

Entnommen aus Kurt Mühlenhaupts autobiographischem Werk in 11 Bänden, erhältlich im Kurt Mühlenhaupt Museum, Fidicinstraße 40


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