Kreuzberger Chronik
Februar 2023 - Ausgabe 246

Geschäfte

Mitteleuropa am Wassertor


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von Gesine Becker

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Es ist nicht die Mitte Europas, an der dieser undefinierbare Laden namens Mitteleuropa liegt. Es ist auch nicht die Mitte Deutschlands oder Berlins, aber es war einmal so etwas wie die Mitte Kreuzbergs. Damals, als noch Wellen an die Ufer des Segitzdamms und des Erkelenzdamms klatschten, die das Becken des Wassertors wie ein Ring umschlossen, und als noch vornehme Fußgängerpromenaden entlang des Luisenstädtischen Kanals vom Urbanhafen bis zum Engelbecken führten.

In einem der Gründerzeithäuser am alten Hafenbecken befindet sich dieser kleine Laden, der aussieht, als wäre er übriggeblieben aus der Zeit vor dem Krieg. Draußen lehnen ein paar hölzerne Klappstühle an der grob verputzten Wand, auf der Fensterbank stehen Körbe mit Gläsern voller Quittenmarmelade und Paprika aus dem Garten, im Schaufenster daneben erinnern ein paar blecherne Spielzeugautos an die glanzvollen Zeiten des Automobils, und eine sechsköpfige tönerne Puppengruppe kleiner Engel mit goldenen Haaren, von denen jeder eine Kerze vor sich herträgt, lässt das ganze Jahr über an Weihnachten denken. Der Schriftzug auf der Scheibe, der für Asbach Uralt wirbt, legt nahe, dass der Laden einmal ein Spirituosengeschäft oder eine Hafenkneipe gewesen sein muss.

Jetzt ist die einstige Destille irgendetwas zwischen Kneipe und Café und Restaurant und Lebensmittelladen und Keramikmanufaktur und Teppichhändler und Postkartenverkäufer. Es gibt Rum, Wein und Kaffee und heiße Schokolade und natürlich Kuchen, so selbstgemacht wie alles andere in diesem Laden auch: Die Marmeladen und die wie von der Oma wegen ihrer schlechten Augen mit extradickem Garn gestrickten Socken; die kleinen Leinenrucksäcke und die Schmetterlinge und Vögel aus Filz; oder die Töpferwaren in dem hölzernen Regal, das bis unter die Decke reicht und schon seit vielen Jahren der Last der Schüsseln, Teller, Tassen, Teekannen und Krüge erfolgreich standzuhalten scheint.

Es könnte sein, dass Teller und Tassen die ersten waren, die in diese Räume einzogen, und dass der Kaffee und der Kuchen und die Marmeladen erst später auf die Teller und in die Tassen kamen. Wann aber und weshalb diese kleine Sammlung von Puppenküchenöfen ganz oben in der letzten Etage des Regals hier Einzug hielt, lässt sich nur vermuten. Es könnte zum Beispiel sein, dass der Besitzer dieses Kneipen-Tonstudio-Spielzeugautoladen-Cafes eine Frau ist, die als Mädchen gerne auf dem Puppenofen kochte, später zu töpfern begann und irgendwann ihren netten Nachbarn, die ständig bei ihr herumhingen, Kaffee und Kuchen anbot. So in etwa könnte das damals gewesen sein... .

Der junge Mann hinter der Theke hebt entschuldigend die Schultern. Er weiß es nicht. Er kommt auch nicht aus Mitteleuropa, sondern aus Afghanistan, und er weiß nur, dass er erst seit einem Monat hier arbeitet und dass es diesen Laden »schon sehr lange« gibt. Der Afghane wird zufällig hier vorbeigekommen sein, so wie alles hier zufällig zusammengekommen zu sein scheint. Hier hat kein gut bezahlter Designer durchgestylt und hübsch arrangiert, hier hat das Leben selbst alles bunt durcheinander gemischt. Von den Tischen gleicht nicht einer dem anderen, das einzige, was sie miteinander verbindet, sind die vom Alter stumpfen, leicht ergrauten und gänzlich unpolierten hölzernen Tischplatten. Alles in diesem Laden, die alten Eisenpfannen, die blechernen Spielzeugautos, sogar die Postkarten, tragen den Charme des Alters.

Sogar die Gäste. Ihre Haarfarbe passt zu den Tischplatten.Manchmal tragen sie vornehme Anzugjacken mit Nadelstreifen, sogar Anzughosen wurden schon gesehen, doch sehen ihre Träger bei alledem nicht aus wie langweilige Immobilienhändler. Sie sehen so aus, als kämen auch sie aus einer anderen Zeit. Sie erinnern an Gestalten aus Kafkas Erzählungen, oder an die Mitglieder dieser österreichischen Schriftstellerclique, die sich nach dem Krieg in Wiener Kaffeehäusern traf. Sie kommen auch nicht herein, als läge dieser kleine Laden am Wassertorplatz mitten in Berlin, sondern als läge er irgendwo in einem fernen Alpental, und als wäre das hier die einzige Wirtschaft weit und breit. Als kämen sie jeden Mittag hierher und stellten jeden Mittag die gleiche Frage: »Was gibt es denn heute zu essen?«

»Linsensuppe oder Wirsing!« – »Dann nehmen wir eine kleine Linsensuppe und einen großen Wirsing.«

Wer nun - anders als die hungrigen älteren Herrschaften, die zielstrebig auf die schmale Ladentür zugesteuert sind - nur so zufällig wie das hier versammelte Inventar hereingekommen ist und anfangs nicht recht wusste, ob er sich in einem Keramikladen oder einem Café befindet, dem wird, je weiter die Zeiger der Uhr auf die Zwölf zuschreiten, allmählich klar, dass es sich hier nicht um ein Kochzubehörgeschäft mit Spielzeugautos, sondern offensichtlich um ein kleines Speiselokal handelt.

Natürlich schmeckt das Essen am Wassertor wie hausgemacht. Schließlich ist alles hier hausgemacht und handgemacht. Sogar das Geschirr wird hier noch handgespült, es stört kein Surren der Spülmaschine die denkenden Dichter aus Wien oder Prag, kein Zischen eines Milchschäumers, und natürlich auch kein schrilles Piepsen einer elektronischen Kasse – da ist nur das freundliche Klingeln einer kleinen Münze in der Trinkgeldtasse. •

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