Kreuzberger Chronik
Dez. 2023/ 2024 - Ausgabe 255

Strassen, Häuser, Höfe

Heimstraße 5


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von Reiner Schweinfurth

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Wie aus einem Goldesel ein Pleitegeier wurde – und wieder ein Goldesel


Henning Langenheim, AKG Images


1888 war einiges los in der Hauptstadt. Am 7. Mai wurden »mehrere Zentner Räucherware, vornehmlich Bücklinge, Flundern und Heringe in der Zentral-Markthalle am Alexanderplatz wegen üblen Geruchs durch die Veterinärpolizei beschlagnahmt«, vermeldet eine Tages-Chronik. Fünf Wochen später stirbt Kaiser Friedrich III., nachdem Kaiser Wilhelm I. bereits am 9. März verschieden war. Wilhelm II. besteigt am 15. Juni den deutschen Thron. Das Drei-Kaiser-Jahr! Berlin ist hin- und hergerissen zwischen Trauer und Freude.

In diesen Tagen erwirbt der Tischlermeister Hoffmann das Grundstück 27c, heute Arndtstraße/Ecke Heimstraße. Die Gegend wird gerade bebaut, die Weinberge an der Bergmannstraße sind bereits verschwunden. Hoffmann, Handwerker und Spekulant, zieht ein Eckhaus hoch. Fünf Geschosse will er, vier werden genehmigt. 1892 ziehen die ersten Mieter ein. Platz ist im Erdgeschoss für fünf Läden, die aber wohl nie alle bewirtschaftet werden. In der Nachbarschaft entstehen Mietskasernen.

1896 ist die Groß-Destillation & Weinhandlung von Ferdinand Schönicke Eigentümer der Immobilie und verkauft Alkoholika im Kiez. Die Besitzer wechseln im Vier- bis Fünf-Jahres-Rhythmus. Die Mieten steigen und der Berliner Handwerker- und Händler-Adel reicht und vererbt das Haus in der Tempelhofer Vorstadt unter sich weiter.

Der Verkehr explodiert. 1911 gibt es bereits 2000 Taxen in der Stadt. Ein Angestellter eines Autohandels erwirbt die Erlaubnis, in der Hofzufahrt des Hauses eine Garage einzubauen, nebst Benzin-Zapfsäule auf dem Hinterhof. Oha! Das Rolltor musste mit Hanfseilen auf dem Bürgersteig gesichert werden, die im Brandfall von der Feuerwehr mit einem einzigen Beilhieb gekappt werden konnten, um das Tor zu öffnen. Von einem Brand in der Garage ist nichts bekannt. Auch der Spritvorrat entzündete sich nie. Glück gehabt!

Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs verläuft alles ruhig. Erbengemeinschaften kassieren die Mieten, die noch nicht zu hoch waren. Dann kommt der 3. Februar 1945. Der bis dahin größte Luftangriff der Alliierten auf Berlin beginnt kurz nach elf Uhr vormittags. 937 Flugzeuge werfen 2.264 Tonnen Sprengkörper über der Stadt ab. Eine Stunde lang ist es stockdunkel in der Stadt.

Berlins berühmtes Exportviertel mit seinen Gewerbehöfen an der Ritterstraße wird komplett in Schutt und Asche gelegt. Einige Bomben aber verfehlen ihr Ziel, eine trifft das Haus an der Heimstraße. Ein Viertel des Gebäudes wird zur Ruine, an der Ecke zur Arndtstraße fehlen auf drei Etagen je zwei Zimmer und das Dach, lediglich der Laden im Erdgeschoss bleibt verschont. Es wird notdürftig repariert, Mieter ziehen ein, und auf der Ecke logiert bald eine Kohlenhandlung. 1952 bittet die Besitzerin und Witwe Martha Bärwinkel das Baupolizeiamt Kreuzberg, dort einen Lagerraum einrichten zu dürfen. Dem Gesuch wird stattgegeben. Ein erstes Signal dafür, dass kein Abriss geplant ist. 1972 ist Feinkost Riedel in den Eckladen eingezogen. Doch das Haus bleibt Ruine und Mahnmal wie an so vielen Orten in der Stadt.

Ab 1978 ändert sich manches. Der Kaufmann Hermann Poppinga, gebürtiger Berliner, wohnhaft in München, lässt sich ins Grundbuch mit einer Grundschuld von 100.000 DM für die Berliner Volksbank eintragen. Die Schulden werden ihm zum Verhängnis.

Doch erst geht es aufwärts. Der Berliner Senat legt ein Zukunftsinvestitonsprogramm auf. Das Programm hat es in sich. Unterstützt wird es vom Notnagel-Bürgermeister Hans-Jochen Vogel, der 1981 für ein halbes Jahr Regierender Bürgermeister ist. Vorgänger Dietrich Stobbe musste wegen der Garski-Korruptions-Affäre das Handtuch werfen. Staatsbürgschaften platzen, Garski war pleite und die SPD hat nichts davon gewusst. Bei den Neuwahlen gewinnt schließlich Richard von Weizsäcker.

Der Clou des Subventionsprogrammes war für Poppinga, dass die Renovierung und Neugestaltung seiner Immobilie an der Heimstraße unter Sozialvorbehalt stand. 49 Prozent der Mieter, die Anfang der 80er-Jahre hier wohnten, erhielten das Recht, ihre Wohnung innerhalb einer gewissen Frist - die allerdings nie klar definiert wurde! - zu kaufen. Einigen gelang dies. Die Preise waren günstig. Für 40.000 Mark etwa gab es eine 80-Quadratmeter-Wohnung. Heute ist diese Wohnung vermutlich eine halbe Million Euro wert.

Die Fördersumme für Herrn Poppingas Unternehmen betrug etwa 1,6 Mio Mark. 1982 wurde die weggebombte Ecke des Hauses mit den hundertjährigen Stuckfassaden wenig stilvoll durch einen schmucklosen Turm ersetzt. Doch das Haus, das sich in einen Goldesel verwandeln sollte, wurde wegen der Überschuldung des Bauherren zu einem Pleitegeier. Zwar konnte Poppinga noch einige Wohnungen verkaufen, ohne sich an den Sozialpreis halten zu müssen, doch auch das reichte nicht: 2006 ging das Objekt an die Franell Grundstücks GmbH, die sofort alles in Eigentumswohnungen überführte und kräftig abkassierte.

2010 musste die neue Ecke in der vierten Etage noch einmal abgerissen werden. Falsche Aluminium-Profile hatten zu Wasserschäden geführt. Kein Silikon der Welt konnte den Pfusch mehr abdichten. Das war der letzte größere Umbau. Mittlerweile gibt es in dem Haus nur noch Eigentumswohnungen, und die Gegend, in der einst Hausbesetzer für Wirbel sorgten und Baustadtrat Werner Orlowsky, der gleich gegenüber in der Nummer 22 wohnte, die »sanfte Stadterneuerung« vorantrieb, ist heute ein Spekulationsobjekt für Immobilienhändler.



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