Kreuzberger Chronik
Dez. 2023/ 2024 - Ausgabe 255

Kreuzberger
Werner Brusch

Ich bin in erster Linie Mensch


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Holger Groß

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Er hat einen langen weißen Bart. Einen, der auch ältere Kinder noch an den Weihnachtsmann glauben lässt. Weshalb ihn die Roma-Familie im Erdgeschoss eines Tages fragte, ob er nicht den Weihnachtsmann für sie spielen könne. Das tat er gerne, aber es handelte sich um eine sehr kinderreiche Familie, und so brachte er bei seinem Auftritt alle Namen durcheinander und verwechselte die Geschenke. »Die haben trotzdem alle brav mitgespielt, obwohl sie mich längst erkannt hatten. Ich habe denen ja schon die Windeln gewechselt, als sie noch klein waren.«

Werner Brusch mag seine Nachbarschaft, und die Nachbarschaft mag den Mann mit dem Bart. Schon weil er fast alle mit Namen kennt, 3000 Nachbarn etwa. Er weiß, wo sie wohnen - Vorderhaus, Seitenflügel, erster Stock, dritter Stock-, und er weiß, wie viele sie sind in der Wohnung, ein oder zwei oder drei oder vier. Er ist schon lange hier, in Kreuzberg geboren, vor fast 60 Jahren. Und er hat seitdem sein Viertel kaum verlassen.

Als er den Führerschein machte, träumte er allerdings noch von Highways durch die amerikanische Prärie, von Rockmusik im Autoradio und wehenden Rauchfahnen aus dem Fahrerhäuschen. Wäre er vor dem Bau der Highways und nicht gerade in Berlin geboren, dann wäre er »wahrscheinlich Cowboy geworden«. Aber Werner Brusch ist in der Müllenhoffstraße geboren, und die Deutsche Post war nicht Wells Fargo und lieferte nicht nach Los Angeles oder San Francisco, sondern nur bis nach Frankfurt an der Oder. Fünfzehn Jahre später gab die Post ihren Fuhrpark sogar ganz auf und bot ihrem bärtigen Kraftfahrer an, vom Lkw aufs Fahrrad umzusteigen. Vielleicht rechneten sie damit, dass einer, der von amerikanischen Highways träumte, sich an die Stirn tippen und sie für meschugge erklären würde. Aber Werner Brusch ist ein geduldiger Mensch, er nickte.

Heute ist er einer von Kreuzbergs dienstältesten Briefträgern, zuständig für einen von 35 Zustellbezirken in Kreuzberg. »Früher waren es 110. Da gab es auch noch 110 Briefträger im Viertel.« Jetzt sind es noch 35. Für die gleiche Fläche. Dafür aber mehr Einwohner. Da geraten auch die routiniertesten Briefträger ans Limit.

Doch Werner Brusch ist sportlich. Er spielte Eishockey beim BSC Preußen und hatte »zwei Eiszeiten« – so nennen die Männer mit den Gitterfenstern im Helm und den fehlenden Zähnen im Gebiss die Spiele in der ersten Liga. Noch heute kennt man Werner Brusch im Kiez als »den Wikinger«, - nicht nur des fotogenen Bartes wegen, sondern weil er sich so schnell nicht an die Bande drücken lässt.

Angefangen hat er bei der Post gleich nach dem Fall der Mauer. »Das Chaos war riesig. Die neuen Postleitzahlen brachten alles durcheinander.« Aber der Wikinger war schon 1989 geduldig, und er ist es noch heute. Kaum einer seiner Kollegen strahlt solche Gelassenheit aus, obwohl das Pensum kaum nochKrähenen zu schaffen ist. »Die Leistungsgrenze ist längst überschritten. Da mach ich doch keine Hektik mehr! Was ich heute nicht schaffe, mache ich eben morgen.« Andere Kollegen werden hektisch. Vor allem die Neuen. Es gibt immer viele Neue, höchstens die Hälfte von ihnen bleibt. Die andere Hälfte schreibt ins Internet: »Fang bloß nicht bei der Post an, bleib lieber auf Hartz IV!«

Werner Brusch bleibt lieber bei der Post. Er sagt: »Ich mach das gern! Ich bin draußen, ich fahre spazieren, ich treffe Leute und kann mit ihnen reden. Mein soziales Umfeld steckt nicht im Handy. Nur wenn Regen und Wind gleichzeitig loslegen, dann ist´s echt Scheiße.«

Natürlich wird auch Werner Brusch manchmal ungeduldig. Zum Beispiel, wenn sie ihn nach Schöneberg bestellen, weil eine von ihm zugestellte Kreditkarte aus dem Briefkasten verschwunden ist. »Ich verstehe ja, dass man der Sache nachgehen muss, aber ich bin doch in erster Linie ein Mensch!« Und dieser Mensch fühlte sich jetzt »wie ein Angeklagter«. Ein unschuldig Angeklagter.

Brusch protestierte so vehement, dass der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches ihn daran erinnern musste, das er gerade vor seinem Chef saß. Da antwortete der Briefträger: »Sie sind nicht mein Chef! Meine Chefs sind die Aktionäre. Sie sind nur mein Vorgesetzter.« Und dann fügte er noch hinzu: »Ick bring den Leuten die Post, ick klau die denen doch nich!«

Der Vorgesetzte kann sich das womöglich nur schwer vorstellen, aber Werner Brusch ist Postbote aus Überzeugung. Er sagt: »Ich möchte, dass meine Kunden zufrieden sind.« In seinen Augen sind es seine Kunden, nicht die der Post. Ihnen gegenüber fühlt er sich verpflichtet, nicht den Chefs. Deshalb lieben ihn die Kreuzberger, deshalb grüßen sie ihn so freundlich wie in den alten Schwarz-Weiß-Filmen. »Ick hab halt immer noch ´n Ohr, und ick sage denen: Wenn wat is, komm´ Se zu mir!« Beschwerdebriefe sind beschwerlich.

Auch für die Krähen hat der Briefträger immer ein Ohr. Deshalb lieben ihn die Krähen. Zwei von ihnen begleiten ihn auf seiner täglichen Tour. Sie sitzen schön schwarz auf seinem gelben Postfahrrad und warten, bis er wieder aus dem Haus kommt, weil sie wissen, dass er nicht nur Briefe, sondern auch Erdnüsse in den Taschen hat. »Im Sommer sind’s nur die beiden, aber im Winter sind es manchmal zehn, die um mich herumschwirren.«

Die Liebe des Postboten zu den Vögeln ist alt. »Mein Onkel hatte nämlich Brieftauben, so richtig mit Pokalen und Siegerehrung und so nem Unfug, und sonntags saßen Vaddern und Steppke dann regel-mäßig mit der Stoppuhr im Garten und warteten darauf, dass Franzi oder Gertrud wieder auftauchen.«

Eines Tages - da war er längst schon Briefträger und Vater - saß am Paul-Lincke-Ufer eine verletzte Krähe. Ein Jungtier. Und weil Werner Brusch eben ein Mensch ist, nahm er den Vogel mit nachhause, wo die Krähe keinen außer dem Postboten an sich heranließ. Nach drei Wochen saß sie bei ihm auf der Schulter, wenn er zu Edeka einkaufen ging. Als sie groß war, warf er sie »etwa 30 mal vom Balkon, aber die weigerte sich strikt, zu fliegen.« Also brachte er sie ins Tierheim zu einer Artgenossin, damit sie fliegen lernte, und als er eines Tages wiederkam und in die Voliere trat, flog sie auf ihn zu und setzte sich auf seine Schulter. Da war es um den Postboten geschehen. Er sah ihr wehmütig nach, als seine Krähe durch die offene Tür in die Freiheit flog und hoch in den Himmel aufstieg. »Ick hab se´ nie wieder gesehen!«

Die beiden Krähen, die ihn heute begleiten, lernte er in der Frühstückspause kennen. Er wollte gerade in seine Stulle beißen, da legte eine von ihnen den Kopf auf die Seite und sah ihn vorwurfsvoll an. Also warf er ihr ein Stück von seinem Wurstbrot zu. Am nächsten Tag saß sie wieder da. So wurden sie Freunde, und wenn er morgens um sechs zur Poststation fährt, um die 12 oder 18 gelben Kisten für seine Tour zu packen, sitzt sie schon auf dem Balkon und wartet. Ebenso wie nach der Arbeit, wenn Werner Brusch in der Bierpause den Abend feiert. Dann sitzt sie vor der Tür auf der Stufe wie ein Dackel und wartet auf die Feierabendnuss.

Es sind nicht die Erdnüsse allein, die sie anlocken, es ist die Ausstrahlung des Mannes mit dem gelben Fahrrad. Es ist die Geduld, die er mit ihnen hat. Sie scheinen zu wissen, dass sie diesen Mann so schnell nicht aus der Ruhe bringen können. Nicht die Krähen jedenfalls. Eher schon die Kunden. Aber damit er wirklich ungeduldig wird, müssen sie ihm schon drei Kinderwagen, fünf Fahrräder und die halbe Wohnungseinrichtung vor die Briefkästen im Treppenhaus stellen. Und wenn dann, wie letztlich in der Nummer 8, einer dieser behelmten Fahrradfahrer hereinkommt, sein Rad auch noch davorstellt und ihn fragt, ob er vielleicht an die Briefkästen müsse, dann antwortet der Briefträger: »Seh´ ick etwa aus wie ein Bergsteiger?« Dreht sich um und geht wieder. Dann bekommt der Radfahrer seine Post erst morgen. Werner Brusch ist eben auch nur ein Mensch. In erster Linie. Der Postbote ist zweitrangig.

Da, wo heute die Fahrräder und die Kinderwagen dem Postboten im Wege stehen, »hing früher der Stille Portier.« Werner Brusch braucht ihn nicht, er hat die Namen im Kopf, aber für die Neuen wäre die Tafel mit den Namensschildern im Flur eine große Erleichterung. Da stand alles drauf, Name, Etage, Vorderhaus, Seitenflügel, Quergebäude, rechts, links… In den beiden Eckhäusern am Ende der Heimstraße hängen noch zwei. »Die Häuser gehören einem alten Berliner, da stimmt noch jeder Name auf der Tafel! Klingeln gibt es da auch keine. In das Haus kommt nach 19 Uhr nur rein, wer den Steckschlüssel hat.So wie das früher in allen Berliner Häusern üblich war. Postboten haben natürlich ihre Spezialschlüssel!«

Es war gemütlicher gewesen, das Leben der Postboten, früher. Auch interessanter. Die Leute redeten mehr miteinander. Man kannte sich und man vertraute sich. In den Achtzigern gab es zum Beispiel noch diese Kneipe in der Gräfestraße, Zum Standesamt, da nahm der Wirt für alle Stammkunden, die kein eigenes Bankkonto besaßen, die Schecks von der Pensionskasse entgegen. »Da saßen dann etwa zwanzig Rentner und warteten bestens gelaunt auf ihre Postbotin, die von jedem im Saal ein Trinkgeld und mindestens einen Korn spendiert bekam. Nach dieser Tour soll die heimkehrende Postbotin immer guter Dinge gewesen sein.«

Und zu Weihnachten gab es natürlich ein Weihnachtsgeld von der Kundschaft. Heute gibt es eine Flasche Wein oder selbstgemachten Eierlikör oder etwas Süßes. Aber Anfang der Neunzigerjahre kam da schnell noch ein 13. Monatsgehalt zusammen. Obwohl es natürlich auch damals schon Geizkragen in der Kundschaft gab, die nach dem 3. Advent immer so taten, wären sie nicht zuhause. Am Mehringdamm versteckte sich einmal ein Rentnerpärchen hinter den Büschen, als es den Postboten kommen sah. Werner Brusch grinste und rief: »Ihr könnt rauskommen, ich hab euch schon gesehen!«

Ach ja... Weihnachten, früher. Das Fest der Liebe. Da kam es schon vor, dass die eine oder andere Dame leicht oder gar nicht bekleidet die Tür öffnete und sagte: »Ach, ich dachte, es wäre meine Freundin.« Weihnachten ist immer etwas Besonderes. Und dann diese Sisyphusberge von Päckchen, die sich in den Poststellen anhäufen. Türme, jedes Jahr höher. Weil keiner mehr zum Einkaufen über den Ku´damm bummelt. Und die erwartungsvollen Blicke kleiner Kinder an der Seite ihrer Mütter, wenn da dieser Mann mit dem weißen Bart in der Tür steht.

Eine Zeit lang hatte Werner Brusch zu Weihnachten sogar eine Weihnachtsmannmütze aufgesetzt. Für seine Nachbarschaft. Als dann immer mehr Postboten zu Weihnachtsmännern wurden, nur um mehr Weihnachtsgeld zu kassieren, setzte er die rote Mütze wieder ab. »Ich war nie der, der mit dem Strom schwimmt.«






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