Kreuzberger Chronik
Dez. 2023/ 2024 - Ausgabe 255

Geschichten & Geschichte

Spaziergänge in die Vergangenheit (1):
Die alten Spielplätze vor dem Halleschen Tor



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von Werner von Westhafen

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Blick durchs Hallesche Tor auf das alte Rondell



Im historischen Gebäude des ehemaligen Kammergerichts in der Lindenstraße 14, in dem heute das Jüdische Museum eingerichtet ist, befand sich bis 1995 das Berlin Museum. Noch vor dessen offizieller Eröffnung 1968 lud das Heimatmuseum zu einem »Spaziergang durchs alte Berlin« ein. Einer der aufmerksamsten Besucher war Kurt Pomplun, der von nun an jeden Sonntag im Feuilleton der Berliner Morgenpost einen Spaziergang in die Vergangenheit unternahm. Sein erster Rundgang führte ihn vom Kammergericht zum Mehringplatz, dem früheren Belle Alliance Platz und dem noch etwas früheren Rondell im »Bezirk der Kasernen und Brauereien« sowie der »Musen und Museen.« Der Ruf Kreuzbergs als Musenviertel blieb bis heute erhalten, auch wenn von den sieben Theatern und drei Museen nach dem Krieg erst nur zwei Theater und kein einziges Museum erhalten blieben.

Beeindruckt vom Museumsbesuch imaginiert der Feuilletonist Pomplun rund um den Mehringplatz noch den geschlossenen historischen Häuserring mit seinen eindrucksvollen Fassaden. Kein einziger dieser Schmuckbauten ist erhalten geblieben, doch eine Anekdote ist überliefert. Der Platz soll auf Kinder eine große Anziehungskraft ausgeübt haben, weil zwischen den Wänden des Gebäuderinges ein vielfaches Echo entstand, wenn man hineinrief. Pomplun hält fest: »Ein Besucher aus der Provinz wollte es auf Anraten seines Gastgebers einmal ausprobieren und rief über den Platz: Mathilde, liebst Du mich? Das Echo korrigierte: Mir!«

Die Zeiten, als das Rondell einer der vier großen Vorzeigeplätze der Stadt war und Besucher aus aller Welt anlockte, sind angesichts der heutigen Sozialbauarchitektur des Platzes schwer vorstellbar. Ebenso fern sind die Jahre, als das alte Stadttor noch eine einsame Zollstation war, auch wenn am Halleschen Tor, »von wo aus seit dem Mittelalter eine vielbefahrene Straße ins schöne Sachsenland führte«, schon immer ein reger Betrieb herrschte. »Wenn die Familie zur Abendstunde von der Landpartie nach Tempelhof oder Alt Mariendorf (…) zurückkehrte, hatte die kleine Tochter wenigstens eins der beliebten Landbrote in ihrem Kinderwagen und der Vater eine tüchtige Portion Gehacktes unter dem Zylinder.« Mit mürrischen Gesichtern, die denen der Vopos nachfolgender innerstädtischer Grenzposten ähnelten, fragten die »Visitatersch – wie die mit der Zollvisitation betrauten Beamten im Volke hießen« - nach »Jerste, Jraupen, Jrütze oder Jries« und wurden dank ihres geschulten Blickes meist auch fündig.

Wer vor dem Zweiten Weltkrieg am südlichen Ausgang des Rondells zwischen den beiden Türmen mit den hohen Bogenhallen hindurchwanderte, betrat die Brücke über den Landwehrkanal. Sie war zu jenen Zeiten, als der Autor der Morgenpost noch ein kleiner Junge war, der Treffpunkt der Kunstspucker. »Ein richtiger Berliner Junge versäumte nie, auf der Halleschen Torbrücke – jetzt heißt sie Mehringbrücke – die damals häufiger als heute verkehrenden Schlepp- und Ausflugsdampfer abzuwarten, um den Moment des Schornsteinumlegens nicht zu verpassen. Es war ein besonderer Sport, zielsicher in den qualmenden Schlund des Schornsteins zu spucken. Doch das wusste auch der Bootsmann, und oft genug bekam man den mit geübtem Schwung hochgeschütteten Inhalt eines Wassereimers ins verdutzte Gesicht.«

Aber der Kanal, an dessen nördlichem Ufer die Stadtmauer verlief, war für Berliner Gören nicht nur interessant, weil man die Schiffer ärgern konnte, die von ihren Kähnen nicht herunterkonnten, um ihnen nachzulaufen. Natürlich diente der Wassergraben auch als Schwimmbad. 150 Jahre vor Pomplun gab es offiziell als Badestelle gekennzeichnete Flussbuchten am »grünen Strand«, dem südlichen Uferweg, und es war eine beliebte Angewohnheit der Kinder, mit den Kleidern über dem Kopf durch »das drei bis vier Fuß tiefe und zehn bis fünfzehn Schritt breite Wasser« ans nördliche Ufer zu waten. »Der Gebrauch von Badehosen war hier weder üblich noch vorgeschrieben, und die Vorschrift wäre auch«, wie ein Zeitgenosse schrieb, »völlig unangebracht gewesen, weil kein Mensch vorhanden war, der nach solchem Luxuskleidungsstück hätte fragen können.« Eine holländische Windmühle an der Kottbusser Brücke sei das einzige Bauwerk weit und breit gewesen.

Allerdings lag gar nicht weit entfernt von der Brücke und der Stadtmauer auch eine jener berühmten Tabagien, in denen neben dem Trinken von Bier und Branntwein auch das Rauchen von Tabak, das innerhalb der Stadtmauern verboten war, gestattet wurde. Das große Gartenlokal trug den Namen Neu-Amerika. Eine Zeitungsannonce aus dem Jahr 1787 schwärmte anlässlich der Eröffnung von einem »indianischen Garten, nebst den schönsten Sorten Obstbäumen ausgezieret, mit Prospecten und Figuren…« Zwölf Jahre soll der Bau der Gartenanlage auf dem ehemaligen Müllberg vor dem Stadttor gedauert haben.

Tatsächlich bestätigten 1957 beim Bau der Amerika-Gedenkbibliothek gefundene Keramik- und Porzellanscherben sowie Glasflaschen mit den Emblemen Märkischer Glashütten aus dem 18. Jahrhundert, dass die noblen Friedrichstädter noch über die Brücke vor das Stadttor laufen mussten, um sich ihres Mülls zu entledigen.

Am Ende seines Spazierganges wirft der alte Berliner von der Morgenpost noch einen nachdenklichen Blick auf den Parkplatz vor der heutigen Gedenkbibliothek und erinnerte sich, dass genau an dieser Stelle jenes Haus gestanden haben muss, in dem zwischen 1859 und 1863 jener Mann wohnte, der von hier aus seine berühmten »Wanderungen in die Mark Brandenburg« begann: Theodor Fontane.

Fortsetzung folgt


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