Kreuzberger Chronik
Dez. 2023/ 2024 - Ausgabe 255

Reportagen, Gespräche, Interviews

Das Exploratorium


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von Wolfgang Bienhaus

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Zum ersten Mal hörte man es in warmen Sommernächten 2004, wenn durch die geöffneten Fenster im dritten Stock einer Fabriketage ungewöhnliche Klänge und musikalische Improvisationen drangen. Harmonien und Dissonanzen, Gesänge, Geschrei und Gelächter ließen die Besucher des Berliner Büchertisches im Nachbarhof auf ihrem Weg zu den Bücherregalen innehalten und in den Fensterreihen des Hinterhofes nach der Herkunft der Töne suchen. Wer fragte, was das für eine merkwürdige Musik sei, erhielt von Nachbarn die Auskunft, das sei das Exploratorium. Die Antwort half wenig, das Wort war so fremd wie die Töne, die aus den Fenstern drangen.






Explorer, so heißen Schiffe, Flugzeuge, Raumfähren, die aufbrachen, um Neuland zu entdecken. Im Exploratorium geht es um die Entdeckung musikalischen Neulandes, um eine Musik jenseits von Notenblättern, Tonleitern und Dreivierteltakten. Es geht um die freie Improvisation. Dafür gründete Matthias Schwabe 2004 das Exploratorium. Die Musik hat ihn von Beginn an durchs Leben begleitet. »Ich hatte eine singende Mutter«, als Kind hatte er Klavier und Flöte gelernt. Aber als junger Mann wollte er nicht immer nur nach Noten spielen. Er »wollte etwas erfinden« und entschied sich für das Studium der Komposition. Doch als er während der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik die vielen ehrgeizigen Komponisten sah, die mit ihren Partituren umherspazierten und »alle davon träumten, unsterblich zu werden, da sagte ich mir: So will ich nicht enden.«

Dennoch war Darmstadt 1979 ein Schlüsselerlebnis für ihn: Auf einem Workshop spielte er im Duo mit einer älteren Improvisationskünstlerin, die ihn sehr beeindruckte. Wie von alleine entwickelte sich in dem kleinen Raum ein Stück Musik und er dachte: »Das ist es, was ich gesucht habe.« Als er später erfuhr, dass er gerade mit Lilli Friedemann gespielt hatte, einer der Pionierinnen der Improvisation, beschloss er, sich künftig der experimentellen Musik zuzuwenden.

In der Improvisation war Raum für Neues, für Erfindungen und Entdeckungen. Auch Raum für mehr Gemeinsamkeit. »Denn normalerweise funktioniert Musik doch so, dass einer sich etwas ausdenkt und ein anderer führt es aus. Wenn du aber mit mehreren zusammen improvisierst und Musik machst, entsteht in diesem Austausch etwas komplett Neues. Und das hat tatsächlich auch Konsequenzen für die Qualität dieser Musik.«

Gemeinsam mit Lilli Friedemann gründete er ein Quartett. Dabei nutzte das Ensemble auf der Bühne so ziemlich alles, was Töne produzierte. »Wir haben sehr gerne im Baumarkt eingekauft, Abflussrohre, Holzleisten, Eimer, ...« Das verband sie mit einigen Punkbands, die zu allem griffen, was irgendwie Lärm machte. Matthias Schwabe ging es jedoch nicht um die Auftritte. »Es gibt viele echt gute Musiker, da muss ich nicht auch noch auf die Bühne!« Matthias Schwabe ging es darum, seine Idee von Musik zu verbreiten, allerdings nicht als Lehrer. »Wir unterrichten nicht, wir wollen Räume öffnen. Erkunden.«

Um diese Räume zu öffnen, veranstaltete er schon nach dem Mauerfall mit befreundeten Musikern Workshops für Improvisation in der Landesmusikakademie an der Wuhlheide. Nach zehn Jahren wurden die Räumlichkeiten zu klein, und als er in Kreuzberg für fünf Euro den Quadratmeter eine Fabriketage mieten konnte, zögerte er nicht. »Ich hatte ja etwas geerbt. Das war mir als Linker natürlich zuerst einmal unangenehm. Andere haben in meiner Situation dann für Nicaragua gespendet oder so etwas, aber das wollte ich jetzt nicht. Also hab ich mich hingesetzt und auf eine gute Idee gewartet.«

Das Warten hat sich gelohnt. Matthias Schwabe gründete in Gedenken an seine »wichtigste Lehrerin« die Lilli-Friedemann-Stiftung, mietete zuerst eine und dann die andere Hälfte einer 3. Etage in den Sarottihöfen, aus 240 Quadratmetern wurden 500, und fünf Jahre nach der Eröffnung standen ihm bereits vier Mitarbeiter zur Seite, um die vielfältigen Aufgaben zu bewältigen. Auch der Kreis an Dozenten und das Angebot an Kursen wuchs kontinuierlich.

Im Sommer 2023 verließ das Exploratorium die Sarottihöfe, die mit dem Ex-Karstadt-Käufer und dessen Berggruen Holding einen neuen Besitzer gefunden hatten und zog in die zweistöckige Remise in die Zossener Straße, in der zuvor die Jongleurschule Just Juggling Kinder fürs Jonglieren begeisterte. Neben dem großen Saal für Konzerte und Veranstaltungen gibt es drei weitere Studios für Workshops auf insgesamt 800 Quadratmetern.

Das Exploratorium legt Wert darauf, dass die Workshops für jeden erreichbar und erschwinglich bleiben. »Ich glaube, das hier ist ein Angebot für Menschen, die den Eindruck haben, dass ihre Kreativität in anderen Bereichen nicht so gewürdigt wird, wie sie es verdient.«

Bisher stand das theoretische Gebäude des Exploratoriums auf vier Säulen: Den Workshops, den Veranstaltungen, den offenen Bühnen und dem wissenschaftlich-pädagogischen Bereich mit der Bibliothek, die Reinhard Gagel 2012 aufzubauen begonnen hatte. Als fünftes Standbein etablieren sich gerade die Kinderworkshops. Auch das passt ins Konzept, denn eines der erklärten Ziele des Exploratoriums ist es, bei der Ent-deckung der eigenen Kreativität behilflich zu sein.

Schwabe erinnert sich an einen Klavierschüler, der sich schwer damit tat, nach Noten zu spielen. Aber er konnte wunderbar improvisieren. »Ein Praeludium von Bach umhüllte er mit einem improvisierten Vor-, Zwischen- und Nachspiel, um sich auf diese Weise das Stück zu erschließen. Es ist irre, was in Kindern an Kreativität alles drin steckt!«

Julia Dorsch leitet einen Erzählworkshop für Kinder, in dem Geschichten erfunden werden und die Kunst der freien Rede geübt wird. Im Nachbarstudio lernen Kinder hinter einer Lampe und einem aufgespannten Tuch die Kunst des Schattenspiels. Rainer Stolz vom Weddinger Poesiestammtisch hat eine »Lebenskunst-Serie« gestartet, in der es um die Frage geht, welche Relevanz das Improvisieren in unserem Leben spielt. Und Olaf Garbow, ein begeisterter Maultrommler, lädt einmal im Monat Dichter und Musiker auf die Offene Bühne für Poesie und Musik. Die Texte dienen den Musikern, denen ein Flügel und andere Instrumente zur Verfügung stehen, als Inspiration.

Schwabes Idee eines Raumes für Entdeckungen durch Improvisation wächst. Er hat einen Kreis kreativer Menschen um sich versammelt, die auf den verschiedenen Bühnen des Exploratoriums agieren. Aus anfangs losen Improvisationsgruppen sind kontinuierliche Ensembles entstanden. Schwabe selbst steht als Spiritus Rector im Hintergrund. »Ich erfülle da eine sinnvollere Aufgabe, als wenn ich mich vorn auf die Bühne stelle. Es gibt wenige Leute, die die Möglichkeit haben, so was auf die Beine zu stellen wie das hier.«

Einmal im Monat betritt er selbst die Offene Bühne und leitet drei Stunden lang die »Improvisation in Musik und anderen Künsten«. Die drei Stunden sind, so wie alle Offenen Bühnen, kostenlos, und die Nachfrage ist so groß, dass die Teilnehmer ausgelost werden müssen.

2019 dachte der Bezirk darüber nach, in der Peter Rosegger-Grundschule am Marheinekeplatz ein Kulturzentrum zu etablieren. In Bezirksversammlungen wurde beraten, man nahm Kontakt zur Kulturszene auf. Bislang blieb es beim Nachdenken. Matthias Schwabe hat sein Kulturzentrum an der Markthalle bereits verwirklicht.









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