Dez. 2023/ 2024 - Ausgabe 255
Mühlenhaupts Erinnerungen
Der Schrankkauf zu Weihnachten von Kurt Mühlenhaupt |
Es kam nicht selten vor, daß jemand noch in allerletzter Minute angeeilt kam, weil ihm noch ein kleines Geschenk fehlte. Bei mir lagen immer alte Ringe, Armbänder oder Anhänger in der Vitrine. Darum wurde es manchmal recht spät, ehe ich zur Familie kam. Als ich die Trödelhandlung verlassen wollte, kam eine uralte Dame ins Geschäft, um einen Schrank zu kaufen. Ich hörte mir ihre Wünsche an. Sie sagte zu mir: »Es ist mir egal, wie er aussieht, wichtig ist nur, daß Sie ihn auseinander nehmen und zu mir hoch tragen.« »Da habe ich etwas«, sagte ich. »Der Schrank läßt sich leicht transportieren.« Ich dachte, es geht ihr darum. Vielleicht wollte sie ihn für den Enkel haben. Was wusste ich. »Es ist zwar schon ein älteres Modell«, redete ich weiter, »es kommt ganz darauf an, wofür Sie ihn brauchen. Außerdem ist er nicht allzu teuer, er kostet nur hundert Mark. Wenn er Ihnen nicht zusagt, müssen Sie bis nach Weihnachten warten. »Nein, nein!« sagte sie, »Dann ist es zu spät. Dieser hier wäre mir recht. Ich habe nur eine Bitte: Sie müssen ihn heute noch liefern!« »Mein Gott«, sagte ich, »heute ist doch Heiligabend! Am Dienstag oder Mittwoch nächste Woche wäre mir lieber.« »Nein«, sagte sie, »dann muß ich den Kauf rückgängig machen.« Ich ließ mich auf den Handel ein und war bereit, den Schrank sofort rüber zu tragen. Sie wohnte um die Ecke in der Zossener Straße, in einem der ersten Häuser. Ich trug den Schrank nach oben. Dort war seltsame Stille. Ich wollte mich beeilen, aber sie sagte: »Lassen Sie sich Zeit. Heute ist Heiligabend. Ich gebe Ihnen erst mal einen Schnaps. Weihnachtsmänner haben bei mir immer einen Schnaps getrunken. Und das ist schon sehr, sehr lange her. Meine Kinder wohnen in Cottbus. Ich bin damals mit meinem Mann hierher gefahren. Nun ist er sieben Jahre tot, und zu den Kindern kann ich nicht rüber. So lange bin ich nun schon allein. Heute sind Sie mein Weihnachtsmann.« Ich baute den Schrank langsam zusammen, setzte mich dann zu ihr an den Tisch, denn ich sah sehr wohl, daß sie auch für mich einen bunten Teller hingestellt hatte. Dann sang sie auf einmal ganz leise »Stille Nacht, Heilige Nacht«. Das erste Mal im Leben begriff ich ganz tief innerlich, was es heißt, Weihnachten alleine dazusitzen. Das war es also, dachte ich: Sie kaufte sich bei mir einen Schrank, um Heiligabend nicht allein zu sein. (...) Darum nahm ich sie einfach mit, und wir feierten noch viele Jahre gemeinsam den Heiligen Abend. Erst als die Grenzen für uns geöffnet waren, weil Willy Brandt das auf seine Art regelte, konnte sie wieder zu ihren Kindern fahren. Den Schrank habe ich wieder abgeholt, den hat ein anderer dringender gebraucht. |