April 2023 - Ausgabe 248
Strassen, Häuser, Höfe
Wilhelmshöhe 23 von Horst Unsold |
Die verschwundene Villa Das Haus mit der Nummer 23 stand in einer Villenkolonie am östlichen Rand des Kreuzbergs. Nichts weist heute mehr darauf hin, dass in der Senke hinter dem Zementklotz des Familienzentrums unter alten und hohen Bäumen ein Teich lag, umgeben von geschwungenen Wegen und hölzernen Stegen, mit einem Wasserturm und einem Pumphaus, in dem eine Dampfmaschine die Villen der Wilhelmshöhe mit Wasser versorgte. Keine Spur haben die Planierraupen der Nachkriegsjahre von der Gartenlandschaft und den breiten, von Kandelabern und Skulpturen flankierten Freitreppen übrig gelassen, die zwischen den Blumenrabatten und Terrassen zu den Villen hinauf führten. Und kaum einer weiß noch, dass dieser Teich zuvor jene Kiesgrube war, aus der die Hausfrauen der Umgegend den feinen weißen Scheuersand zum Putzen bezogen. Die Grube gehörte den Gebrüdern Gericke, die auch den großen Vergnügungspark am Kreuzberg besaßen. Obwohl die Kiesgrube mehr abwarf als der berühmte Tivoli mit zehn Silbergroschen Eintritt und zweieinhalb Groschen für die große Rutschbahn, musste die Grube 1871 geschlossen werden. Es war so viel Sand geschürft und die Grube so tief geworden, dass die Methfesselstraße, die zum Denkmal hinaufführte, abzustürzen drohte. Das war der Moment, in dem zwei clevere Architekten auf die Idee kamen, die alten Pläne ihres berühmten Kollegen Lenné wieder auszukramen und das von ihm an dieser Stelle geplante Villenviertel zu realisieren. Die exklusive Anlage der Villen-Sozietät Wilhelmshöhe, einem Zusammenschluss betuchter Persönlichkeiten, sollte in 40 Baugrundstücke aufgeteilt werden, auf denen jeweils »ein kleines, villenartig gehaltenes Haus mit einer oder höchstens zwei comfortablen Familienwohnungen im Mietwerte von 250 bis 300 Talern für vier bis acht Zimmer erbaut wird.« Die meisten dieser Villen wurden durch Bomben zerstört, lediglich einer der vornehmen Wohnsitze ist noch im Original erhalten mit seinem großen, steil an den Hang gebauten Garten: die turmhohe, halb verfallene Villa an der Methfesselstraße von Christoph Heltzel. (Vgl. Kreuzberger Chronik Nr. 120) Doch auch dieses Haus ist nun in den Händen von Architekten und wird bald nicht mehr wiederzuerkennen sein. Auch das Haus Wilhelmshöhe 23 ist verschwunden. Alten Adressbüchern zufolge wohnte hier ein gewisser Herr Meysel, ein Original, von dem die Berliner nicht ohne Kopfschütteln erzählt haben sollen. Ferdinand Meysel war der Sohn des Direktors des Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters in Frankfurt an der Oder und zugleich Kopf der Stettiner Sänger, die allerdings nicht, wie der Name suggeriert, von der 1888 traten die Sänger erstmals unter dem Namen »Stettiner« in Berlin auf, zunächst im Berliner Concerthaus Sanccoucis in der Kottbusser Straße, später in der Victoria Brauerei am Kreuzberg und in direkter Nachbarschaft zur Villenkolonie. Dem Frankfurter gefiel es am Victoriapark, und so schlug er sein Quartier in der Kreuzbergstraße Nummer 30 auf, wo er die vornehmen Villen am Rand des Victoriaparks nun ständig vor Augen hatte. 20 Jahre nach der Gründung des Quartetts war es dann so weit: Die Sängerknaben hatten es geschafft: Sie brauchten nicht mehr über die Bühnen der Stadt zu tingeln, sondern besaßen ein eigenes Haus. Ab 1898 traten die Stettiner regelmäßig im Reichshallen-Theater am Dönhoffplatz auf. Auch wenn die Besetzung des Männergesangsquartetts während der fünfzig Bühnenjahre wechselte, so blieben die Kunstfiguren der beiden Gendarmen -einem dünnen Langen und einem kleinen Dicken -ihnen immer erhalten. Die Gruppe war so erfolgreich, dass Ferdinand Meysel endlich ins aristokratische Villenviertel umziehen konnte, wo die Kreuzberger von nun an täglich einen fein gekleideten Herren, ausgerüstet mit Stock und Hut die Belle-Alliance -den heutigen Mehringdamm -hinabstolzieren sahen. Der Direktor befand sich auf dem Weg in »sein« Theater und ließ sich den Spaziergang partout nicht nehmen, im Sommer ebensowenig wie im Winter. Man munkelte, dem Mann sei der Erfolg zu Kopf gestiegen. »Meysel«, so erzählt es der Autor Kurt Pomplun in seinem Buch über Berliner Häuser, »soll der einzige Berliner gewesen sein, der niemals weder die Straßenbahn, noch Autobus oder U-Bahn genutzt hatte. Jeden Tag ging er von seiner Wohnung zu Fuß ins Theater. Auch den Rückweg, spät nach Mitternacht, unternahm er in gleicher Weise, selbst bei Frost und Schneegestöber. Die Familie ließ er fahren, er selbst ging zu Fuß.« Außer einigen Zeilen in Geschichtsbüchern und einer Notiz bei Wikipedia erinnert heute nur noch wenig an den stolzen Direktor und seinen einstigen Wohnsitz zwischen dem heutigen Mehringdamm und der Methfesselstraße. Von der Villa Meysel ist nichts geblieben. Sie muss, wenn sich Kurt Pomplun nicht irrt, südlich des Familienzentrums, ein Stück den Mehringdamm hinauf, gelegen haben. Fotografien aus den Sechzigerjahren zeigen noch die Reste zerstörter, einst schmuckvoller Fassaden. • |