April 2023 - Ausgabe 248
Geschichten & Geschichte
Leonhardt Thurneysser von Michael Unfried |
Der skurrilste Berliner des 16. Jahrhunderts Eine der schillerndsten, seinerzeit berühmtesten, heute aber weitgehend vergessenen Figuren, die in der Stadt an der Spree wohnten, war Leonhardt Thurneysser. Lange bevor ein Franzose namens Chamisso im Süden Berlins nach Pflanzen suchte, sie katalogisierte und konservierte, bis er Direktor eines Botanischen Gartens wurde, durchstreifte ein Schweizer Kräutersammler Felder und Wiesen vor den Toren Berlins: Leonhardt Thurneysser. Bis heute streiten Historiker über die Frage, ob es sich bei ihm um einen genialen Wissenschaftler oder einen genialen Scharlatan handelte. Die Vermutung liegt nahe, dass beides richtig ist. Der Schweizer trug zwei Seelen in der Brust. Vielleicht war er es, der Meister Goethe zu der Figur inspirierte, die als Doktor Faustus in die Weltliteratur einging. Doch während im literarischen Doktor das Böse mit dem Guten um die Vormacht rang, lebten die beiden Antipoden der Seele im realexistierenden Einwanderer in friedlicher Koexistenz. Ähnlich wie Chamisso war Thurneysser ein begeisterter Naturwissenschaftler. Als Sohn eines Goldschmiedes entwickelte er Interesse an Metallurgie und Alchemie. Gleichzeitig versuchte er bei einem benachbarten Arzt und Naturforscher seinen Wissensdurst auf Kräuter und Arzneien zu stillen. Im Alter von 16 trieb ihn die Neugierde nach England und Frankreich, wo er als als Söldner in Gefangenschaft geriet. Er arbeitete in russischen Bergwerken und als Goldschmied in Konstanz und Straßburg. Nach acht Jahren kehrte der Abenteurer nach Basel zurück, heiratete eine reiche Witwe, die ihm jedoch den Zugriff auf ihr Gold verwehrte, woraufhin der Alchemist Bleibarren in Goldbarren verwandelte, um seine Schulden zu begleichen. Als der Schwindel aufflog, verlor er nicht nur die Frau, sondern auch das Baseler Bürgerrecht. Es war diese Gaunerei, die wesentlich dazu beitrug, dass er unter seinen Zeitgenossen den Ruf eines »Abenteurers von mäßig anständiger Gesinnung« nie wieder los wurde. Leonhardt Thurneysser flüchtete in die Berge, wurde Bergbau- inspektor und »Meister aller Minen in Tirol«. Nebenbei machte sich der Mineraloge einen Namen als Arzt und »Schneidekünstler«, also als Chirurg. Das zog nicht nur die Aufmerksamkeit einfacher Bergbauern auf sich, sondern auch die des Kaisers, der ihm 1560 die offizielle Erlaubnis zum Sezieren einer Leiche erteilte – seinerzeit ein hochgeschätztes Privileg unter den Medizinern. Zur Weiterbildung bereiste der Doktor -nun schon im Auftrag Erzherzog Ferdinands II. -Ägypten, Äthiopien, Syrien und Griechenland, sammelte Minerale, Kräuter und Rezepte und erschien zehn Jahre später in Frankfurt an der Oder, wo er in der Eichhornschen Druckerei sein auf Reisen angehäuftes Wissen zu Büchern bündeln wollte. Es erschienen die wissenschaftlichen Bände Archidoxa und Pison. Thurneysser richtete sich ein, legte einen Kräutergarten an, trug eine wissenschaftliche Bibliothek zusammen, baute eine Druckerei und Schriftgießerei auf, die neben lateinischen auch hebräische, arabische, türkische, griechische und persische Lettern im Satzkasten hatte. In einem Klosterturm entstanden eine Sternwarte für astrologische Beobachtungen, im Erdgeschoss Werkstätten und Laboratorien für 200 Mitarbeiter. Die Kombination vom Erstellen persönlicher Horoskope mittels Sterndeutung mit dem Verkauf von Talismanen gegen das vermeintlich drohende Unheil und Arzneien nach geheimen Rezepturen gegen wahrscheinlich auftretende Krankheiten erwies sich als äußerst lukrativ: Die Produkte aus dem Kloster eroberten die Welt. Es dauerte nicht lange, da wandelte der Schweizer »in schwarzen, samtenen und seidenen Kleidern, trug goldene Ketten und aß von silbernen Tellern. (…) Bei seinen Fahrten im vierspännigen Wagen liefen Diener neben ihm her.« Doch die Ärzte und Professoren der Universitäten sahen dem Treiben des Kollegen misstrauisch zu. Es kam zu Anklagen, auch wenn die Gelehrten einräumten, dass der Schweizer veritable botanische Studien durchgeführt und das erste umfassende Kräuterbuch der Mark Brandenburg verfasst und gedruckt hatte. Sogar die erste Berliner Zeitung, die Botenmeisterzeitung -Vorgängerin der berühmten Vossischen Zeitung -ist in seiner Druckerei entstanden. Aber die Neider machten ihm das Leben schwer. Thurneysser ließ sein gesamtes Vermögen -Herbarium, Bibliothek, Gemäldesammlung, alte Handschriften und Schmuck -in die Schweiz transportieren und ehelichte eine junge Frau, um die Baseler Bürgerrechte wiederzuerlangen. Doch die »ehrvergessene Blutschandhure und Giftköchin« betrog ihn. Die Angelegenheit kam vor das Gericht, sein gesamtes Vermögen wurde beschlagnahmt und der Giftköchin übereignet. Thurneysser hatte alles verloren. Wieder ging er auf Reisen, lebte für kurze Zeit unter der Obhut des Papstes in Rom, kehrte aber aus unerfindlichen Gründen zurück. Dann verlieren sich die Spuren, 1596 taucht er in einem Kloster bei Kölln auf, wo er verarmt stirbt. Sein Name wird selten erwähnt, zuletzt 2006 auf einer Ausstellung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Gezeigt wurde das erste Berliner Buch mit fünf orientalischen Sprachen, die 400 Jahre alte Magna Alchymia, »hergestellt in der Werkstatt Leonhardt Thurneysser.« • |