Kreuzberger Chronik
April 2023 - Ausgabe 248

Reportagen, Gespräche, Interviews

50 Jahre Literatur in Kreuzberg


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von Horst Unsold

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Seit 50 Jahren ist er der Leiter der Kreuzberger Literaturwerkstatt. Vor 60 Jahren wurde der Kreuzberger Verlag amBEATion gegründet. Nepomuk Ullmann und Riewert Quedens Tode erinnern sich Ein Gesräch .

















Chronik: Nepomuk, wollen wir Du oder Sie sagen?
Ullmann: Ich bin jetzt 80 Jahre alt, und bei Achtzigjährigen war bekanntlich früher alles besser!
Chronik: Ok! Herr Ullmann: Sie haben im Januar vor fünfzig Jahren in Ihrer Wohnung zur ersten Kreuzberger Literaturwerkstatt geladen. Am 29. März werden Sie die Veranstaltung zum letzten Mal eröffnen. Wie hat sich die Kreuzberger Literatur in diesen Jahren entwickelt. Wie hat alles begonnen?
Ullmann: Begonnen hat es in meiner Wohnung in der Fürbringer Straße. Da trafen wir uns und lasen und diskutierten. Zu Anfang waren wir acht. Irgendwann tauchten Leute wie Gerda Schipanski, Günter Grass und Paul Schuster auf. Es war ein ziemliches Gelage, wie immer, wenn sich Künstler trafen. Gesoffen haben wir ja alle. Später waren wir dann am Chamissoplatz, da hatte ich eine riesige Wohnung.
Chronik: Und wie wurde aus dem privaten Kreis eine Veranstaltung?
Ullmann: Wir hatten in der zitty inseriert, da wurde der Kreis schnell größer. Aber dann bemerkte ich, dass danach immer Bücher in meinem Regal fehlten. Also zogen wir in den Heidelberger Krug, die Kneipe am Chamissoplatz, und dann in den Keller der Heiligkreuz-Kirche; dann in die Oranienstraße und in meine Galerie, das Atelier der Freundschaft. Mehr als zehn Jahre war ich beim Büchertisch am Mehringdamm, und zuletzt in der Zeitzone in der Adalbertstraße. Und jetzt sind wir bei Halit in der Kreuzbergstraße. Wir sind ein bisschen herumgekommen.
Chronik: Wie fing das bei Ihnen an, Herr Tode?
Tode: Ich habe den Verlag gegründet, weil wir für die Beatniks und gegen Vietnam waren. Das erste Buch war eine Anthologie gegen den krieg in vietnam mit Texten von Erich Fried, Heiner Müller oder Peter Paul Zahl. Gedruckt in der Urbanstraße in Peter Paul Zahls Druckerei. Chronik: Gab es noch andere Verlage in Kreuzberg?
Tode: Ja, da war in den Siebzigern zum Beispiel Elefanten Press in der Zossener Straße und auch Hugo Hoffmanns Handpresse im Hinterhof der Neuenburger Straße. Und dann der Polyphem Verlag. Ich erinnere mich nicht mehr, wo der war, aber er hieß so, weil der Besitzer nur ein Auge hatte. Der druckte Kreuzberger Autoren wie Artur Märchen und Wolfgang Graetz oder von Mühlenhaupt Eine Bartgeschichte aus Berlin. Oder auch das letzte Buch von Robert Wolfgang Schnell - in einer ganz kleinen Auflage. Ich habe dem Drucker noch eines der letzten Exemplare abgekauft und der Autor konnte gerade noch seine Unterschrift darunterkrakeln. Bald danach ist er gestorben. Und dann gab es noch die Raubdrucker. Zum Beispiel den Rainer Pretzell, der hatte Zettels Traum von Arno Schmidt gedruckt. Das war ein sehr schönes Buch, da gab es sogar einen Deal mit dem S. Fischer-Verlag, der eigentlich die Rechte hatte. Pretzell durfte den Rest seiner Auflage noch verkaufen, musste sich aber verpflichten, keine weiteren Bücher mehr nachzudrucken.
Chronik: Heute unvorstellbar so ein Arrangement...
Tode: Stimmt. Aber die Raubdrucker hatten ja 1968 auch politische Motive. Die veröffentlichten, was es sonst nirgends mehr gab, nicht einmal in den Bibliotheken, also Trotzki oder andere linke Autoren. In den frühen Siebzigern dachten auch die Raubdrucker dann schon kommerzieller und druckten teure Bestseller, Isabel Allende und so etwas, und zogen dann abends durch die Kneipen und verkauften die zum halben Preis. Kreuzberg war da ein gutes Pflaster. Bei mir im Antiquariat kamen sie auch immer vorbei.
Chronik: Also Verlage und Druckereien gab es in Kreuzberg. Gab es noch andere Schriftstellerkränzchen in der Gegend?
Ullmann: Es gab die Treffen in Hugo Hoffmanns Bilderbude in der Schleiermacherstraße. Das waren Maler, Bildhauer, Schriftsteller. Es wurde gelesen und diskutiert, alle 14 Tage.
Chronik: Was war mit dem Leierkasten? Da gründeten sich doch immerhin die Malerpoeten mit Schnell und Günter Bruno Fuchs....
Ullmann: Ja, aber da wurde nicht gelesen und an Texten gearbeitet. Die haben sich da doch nur zum Saufen getroffen. Da kamen die Leute schon aus Westdeutschland, weil sie davon gehört hatten. Sogar Arthur Miller und Uwe Johnson saßen da. Es gab zwar Lesungen, aber eigentlich war es da viel zu laut, das war eher ein Jazz-Lokal.
Chronik: Dann gab es noch das Autorenforum in der Dieffenbachstraße. Jeden Mittwoch traf man sich, las auf der kleinen Theaterbühne und zerfledderte sich anschließend gegenseitig bis morgens um vier. Da sind einige junge Autorinnen heulend auf die Straße gerannt.
Ullmann: Da war ich nie dabei! Aber das waren auch schon die Neunzigerjahre. In den Siebzigern gab es solche Exzesse nicht. Heute versuchen sich alle gegenseitig zu zerlegen.
Chronik: Woran liegt das?
Ullmann: An unserer Gesellschaft. Das hat mit Literatur nichts zu tun. Wir leben in einer unsolidarischen Ellenbogengesellschaft. Da können wir noch so viel spenden für Erdbebenopfer in Syrien oder der Türkei!
Chronik: Der Begriff der Ellenbogengesellschaft stammt noch aus den Siebzigerjahren...
Ullmann: ... aber er hat heute mehr Daseinsberechtigung als je zuvor. Diskussionen haben jetzt mit konstruktiver Kritik nichts mehr zu tun. Weder in den Literaturforen noch im Feuilleton.
Chronik: Nicht einmal in der Politik.
Ullmann: Ich habe letztens bei meiner Veranstaltung einen Text gelesen und mich für unbedingten Frieden eingesetzt und gegen die Waffenlieferungen geäußert. Es hat nicht viel gefehlt und die hätten mich verprügelt! Das war in den Siebzigern undenkbar.
Chronik: Was gab es noch für Literaturorte in Kreuzberg damals?
Ullmann: Naja, da war der Verband Deutscher Schriftsteller im Haus der Buchdrucker in der Dudenstraße. Die organisierten sogar literarische Dampferfahrten. Es gab Lesungen in allen möglichen Kneipen, im Heidelberger Krug, in der Malkiste, im Yorckschlösschen, in der Nulpe, da bin ich am Heiligen Abend mal mit einem brennenden Adventskranz auf dem Kopf einmarschiert. Und dann waren da noch die Treffen bei Kurt Neubauer in der Solmsstraße. Die waren Kult. Der veranstaltete sogar Marathonlesungen, die dauerten 24 Stunden. Da kam auch die Journaille und berichtete.
Tode: Bei Kurt haben einige das Dichten gelernt. Aldona Gustas war, wenn ich mich recht erinnere, auch eine seiner Anhängerinnen.
Chronik: Die Kultur sollte raus aus den Museen und auf die Straße! Sie sollte sich einmischen, etwas verändern, nach Außen wirken.
Ullmann: Aber das hat ja nicht funktioniert. Heute erzählen die Leute doch nur noch Geschichten über sich selbst. Das ist alles sehr ichbezogen geworden.
Chronik: Die Literatur schaut nicht mehr in die Welt, sondern nur noch in den Spiegel?
Ullmann: Genau. Und es geht nur noch darum, wer der Beste ist.
Chronik: Kreuzbergs next Topautor!
Ullmann: Es fehlt den jungen Autoren an Sorgfalt. Sie schreiben oft schlechtes Deutsch. Das interessiert aber auch keinen mehr. Die schlendern lässig auf die Bühne, ziehen einen zerknitterten Zettel aus der Hosentasche und erzählen Witze.
Chronik: Es geht um die Selbstinszenierung. Man will auf Bühne?
Ullmann: Ja, und ich musste schon öfter mal dazwischengehen und sagen, das ist doch hier nicht Bauer sucht Frau. Hier geht es doch um Literatur. Es gab ja Autoren, die haben nur gelesen, wenn junge Frauen im Publikum saßen.
Chronik: Auch Autoren haben das Bedürfnis, sich zu vervielfältigen.
Ullmann: Aber bitte auf dem Papier! Ich mache eine Literaturwerkstatt, keinen Workshop für Sexualgestörte. Da saß mal eine Frau auf der Bühne und beschimpfte ihren geschiedenen Ehemann, und der saß unten im Publikum. Der Text war eine einzige Hasstirade. Da bin ich dazwischengegangen und hab sie von der Bühne geholt. Ein anderes mal im Büchertisch - auch das ist noch nicht lange her - kommt einer auf die Bühne und sagt: Ich lese jetzt vor, wie ich einem kleinen Jungen die Sexualität beigebracht habe. Ich wunderte mich schon, und da sehe ich, wie der da unterm Tisch mit seinem Pimmel zu spielen begann. Da habe ich ihm Hausverbot erteilt.
Chronik: Freie Sexualität wurde doch groß geschrieben in den Siebzigern!
Ullmann: Schon, und es wurde auch über Abnormitäten geschrieben, aber nicht über Kinder. Und dann kamen zwei Frauen und fingen an, mir etwas von Meinungsfreiheit zu erzählen. Aber wie ich schon sagte: Es geht heute darum, Aufmerksamkeit zu erregen. Um jeden Preis. Gesehen zu werden.
Chronik: Ist die Literatur unpolitischer geworden? Tode: Es ist auf jeden Fall sehr viel weniger geworden. Und es hat mich schon sehr gewundert, dass sich noch keine deutschen Autoren zum Krieg in der Ukraine gemeldet haben. Als ich damals meine Anthologie gegen den Vietnamkrieg herausgab, da hatten 39 Autoren Texte dazu beigetragen. So was vermisse ich heute.
Chronik: Das hört sich an, als wäre die Literatur trotz aller Bemühung um Kurzweiligkeit ziemlich langweilig geworden?
Tode: Ich würde sagen, sie war erheblich lebendiger. Wenn ich mich an die öffentlichen Lesungen erinnere, zum Beispiel im alten Buchhändlerkeller in Friedenau, da gab es keine Lesung, auf die nicht eine politische Diskussion gefolgt wäre. Schon allein weil Peter Paul Zahl keinen Abend fehlte und immer polemisierte und politisierte. Ullmann. Wenn ich mir diese Lesebühnen heute anschaue, da geht es nicht mehr um die großen Fragen der Literatur. Nicht um Krieg und Frieden. Da geht es nur noch um Unterhaltung. Es gibt heute vielleicht mehr Literatur auf der Bühne als früher, aber mir fehlt da etwas...
Chronik: Wie geht es weiter? Ab April wird ein Mann namens Zatelli die Literaturwerkstatt übernehmen. Ein neuer Mann, eine neue Generation. Gibt es denn unter den neuen Autoren wirklich keine, die über das Selbstbildnis in ihrem Spiegel hinausschauen und sich wieder der Welt zuwenden? Ullmann: Doch, es gibt glücklicherweise Autoren aus Syrien, Afghanistan oder der Ukraine, die perfekt Deutsch sprechen und auch schreiben. Das ist beeindruckend. Die haben tatsächlich etwas zu erzählen, das uns alle angeht.
Chronik: Und die Deutschen halten sich raus?
Ullmann: Nein, es gibt auch Deutsche, die sich gegen den Krieg positionieren. Aber keiner traut sich, das öffentlich auszusprechen so wie ich: Keine Waffen! Waffen töten! Da bin ich auch nicht mehr von abzubringen. Einmal, da kam einer zur Literaturwerkstatt und trug ein langes, episches Gedicht vor, vielleicht vier Seiten lang. Aus dem Gedächtnis. Zuerst auf Russisch, dann auf Deutsch. Ein Gedicht gegen den Krieg. Hätte er das in Russland vorgetragen, wäre er schon im Gefängnis. Und das sind so die Momente, in denen ich weiß, dass meine Literaturwerkstatt noch Sinn macht. Ich habe auch viele Flüchtlinge aus der Ukraine kennengelernt, die sagen, dass Selenski genau so ein Verbrecher ist wie Putin. Aber die Ukrainer, die sich trauen, das Wort zu ergreifen, das sind alles glühende Verehrer Selenskis. Das stimmt mich nachdenklich. Chronik: Vielleicht zum Abschluss noch etwas Optimistisches zum Thema Literatur. Was ist mit der Lettretage, die sich im Keller der alten Villa an der Methfesselstraße traf?
Ullmann: Die haben, glaube ich, Kreuzberg verlassen.
Tode: Aber es gibt da eine durchaus empfehlenswerte Veranstaltung im
Buchhändlerkeller, der ist jetzt allerdings am Steinplatz. Alle drei Monate wird da von jungen Mitarbeitern des Wagenbach Verlags eine Lesung organisiert. Da werden fünf Texte gelesen, deren Autoren aber anonym bleiben. Die sitzen irgendwo incognito im Publikum. Dann diskutiert das Publikum über die vorgetragenen Texte. Nicht bösartig, aber sehr unterhaltsam. Da ist die Bude immer voll!

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