April 2023 - Ausgabe 248
Geschäfte
Spiele von Achim Fried |
Neben einem kleinen, Zeit und Raum ignorierenden Gemüseladen in der Blücherstraße, der aussieht, als wäre er aus den italienischen Sechzigern nach Berlin versetzt worden, hat ein Laden aufgemacht, bei dem man, anders als beim Gemüsehändler mit den Kartoffeln und Orangen vor der Tür, nicht gleich weiß, womit hier eigentlich gehandelt wird. Die große Glasfront seiner Auslage könnte zu einer Boutique gehören, doch am unteren Rand des Schaufensters stehen auf einem Podest aus alten Dielen keine Stiefel, sondern großformatige Bücher mit grellbunten Covern. Hinter der großen Scheibe, in einem schlichten und fast leeren Raum, sind in einem hölzernen Regal, das sich an die Wand lehnt, wie Bilder in einer Galerie bunte Buchdeckel ausgestellt: Abbildungen phantastischer Wesen und gespenstischer Aliens, Fratzen von Fledermäusen und Drachen, Gesichter von Zwergen und Feen. Es sind Bilder fremder, faszinierender Welten, auf den vermeintlichen Buchdeckeln stehen Titel wie Forbidden Lands, Vision of the Deep Past oder Cthulhu. Es scheint sich also um einen Buchladen zu handeln. Cthulhu ist den Freunden der phantastischen Literatur bestens bekannt. H.P. Lovecraft, ein literarischer Erbe Edgar Allan Poes, hatte das Wesen mit dem unheimlich klingenden Namen erfunden und in so schillernden Farben beschrieben, dass auch jene, die nach der Abendlektüre Poe´s noch lächelnd die Augen schlossen, endlich das Fürchten lernten. Auch das Regal an der Wand gegenüber ist der Literatur zugewandt. Was hier zu sehen ist, ist die Kunst grafischer Illustration. Von den Geschöpfen der Zwanzigerjahre über die Crump-Comics der Sechziger bis hin zu erfolgreichen Gegenwartsautoren wie Moebius, Katsuhiro Otomo, Simon Hanselmann oder Sergio Toppi, der Märchen und Sagen aus aller Welt sammelte und neu illustrierte. Dieser Laden könnte eine Abteilung in einem Museum of Modern Art sein, und Jan Utecht ihr Kurator, der sein persönliches »Best of« um sich versammelt hat. »Hier ist das, was mir gefällt!« Jan Utecht gefällt das Außergewöhnliche, das Unrealistische und Unerwartete. Deshalb hat er Animation studiert und nicht Schauspiel oder Dramaturgie. Da hätte er mit wirklichen Menschen arbeiten müssen. Wie langweilig! Aber neue Figuren oder Wesen zu erfinden und zum Leben erwecken und diese Wesen Geschichten erleben zu lassen, das fasziniert. »Ich komme aus einem kleinen Ort, aber da gab es einen Buchladen, der hatte immerhin schon eine Ecke mit Fantasy-Literatur und Rollenspielen.« Folgerichtig ging Utecht nach Babelsberg, studierte Animation und machte seinen ersten Film: Reflection Black. Aber dann raubten ihm die Professoren die Nerven wegen des Abspanns. »Ich habe ein Jahr lang nur am Abspann gearbeitet! Da hatte ich keine Lust mehr.« Und dann wurde dieser Laden frei. Da konnte er alles hineinpacken: seine Bilderwelten und die Lust, Geschichten zu erzählen, der Phantasie freien Lauf zu lassen. Denn in dem Regal mit Cthulhu, Star Trek und Dungeon sind keine Buchdeckel ausgestellt, sondern die Verpackungen von Spielen. Jan Utecht hat das Beste an Rollenspielen hier versammelt, das er finden konnte. Ein deutsches ist auch dabei, »ein Klassiker: Das schwarze Auge.« Ansonsten sind die Deutschen hier ganz klare Außenseiter. »Das Ganze kommt ja eigentlich auch aus dem englischsprachigen Raum. Da hießen diese Spiele in den Siebzigern pen & paper, weil man nichts anderes brauchte als einen Stift, Papier, und bestenfalls ein paar Würfel.« Der Rest ist Phantasie, eingeschränkt durch ein paar Regeln. »Als ich sagte, dass ich so einen Laden aufmache in Kreuzberg, hielten mich die meisten für verrückt.« Doch Jan Utecht sah in der Corona-Epidemie eine Chance: Zum einen durften Buchläden geöffnet bleiben - »und Rollenspiele gehören zum Buchsortiment« -, zum anderen mussten sich die Leute in ihren Wohnungen die Zeit vertreiben. Außerdem war auch Berlin jetzt reif für die Zukunft. »Berlin, und vor allem der Rest von Deutschland, war ja irgendwie schon ziemlich verstaubt in Sachen Fantasy.« Wer sich dafür interessierte, war »sofort ein Nerd«. Aber jetzt ändert sich das. Stranger Things, die Netflixserie, beginnt mit einem Fantasyspiel, das Wirklichkeit wird. Fantasy ist auf dem besten Weg, in der deutschen Realität anzukommen. Und Jan Utecht ist einer ihrer Wegbereiter. Aber noch ist sein Laden ein »Destination Point« für Eingeweihte, einer, von dem man sagt: »Ja, da in Berlin, da gibt es so einen Laden...« Aber eigentlich macht er das hier nicht für ein paar »Nerds«. Eigentlich würde er auch ganz gern ein bisschen Geld damit verdienen. »Ich mache das eher für Leute, die etwas davon verstehen«, von Kunst, Literatur, Grafik und Comics. Fürs Bildungsbürgertum sozusagen. Für Leute, die keine Lust haben, vor dem Fernseher zu verblöden, sondern sich lieber mit Freunden eine Geschichte zusammenphantasieren. »Das Geschichtenerzählen ist etwas so Menschliches und Elementares, das haben wir schon immer gemacht, wenn wir zusammensaßen.« Das ist eine unendliche Geschichte. Es gibt Spiele, erzählt der Spielleiter, die nehmen kein Ende, die ziehen sich über Jahre hin. Jan Utecht ist kein Nerd. Er ist einer, der aus Überzeugung handelt, nicht nur aus purer Leidenschaft. »Ich hatte einen Freund, der stotterte. Irgendwann, als wir eines dieser Rollenspiele spielten, hörte er auf zu stottern. Nur, weil er eine andere Rolle hatte. Der stottert heute nicht mehr!« Spielen ist wichtig. Ein genialer Spieler sagte einmal: »Wir hören nicht auf zu spielen, weil wir alt werden. Wir werden alt, weil wir aufhören zu spielen!« • |