Kreuzberger Chronik
Oktober 2022 - Ausgabe 243

Geschichten & Geschichte

Die ersten Berlinerinnen auf Rädern


linie

von Michael Unfried

1pixgif











Berlin war noch verhältnismäßig klein, 300.000 Menschen lunfallebten in der Stadt. Doch schon wurde der Verkehr auf den Straßen zum Problem. Droschken, Fuhrwerke, Kutschen und Pferdeomnibusse standen immer häufiger kreuz und quer auf den breiten Boulevards und in den schmalen Straßen. Auf den Kreuzungen kam es immer häufiger zu Unfällen und Zusammenstößen. Die die Fußgänger begannen sich zu beschweren, insbesondere über die Vorgänger der Berliner Taxifahrer: die Droschkenkutscher.

Diese schimpften schon damals lautstark über zu langsame Verkehrsteilnehmer, insbesondere über flanierende Spaziergänger oder spät heimkehrende Trinker. Deshalb hielt 1830 die Erste Berliner Droschkenordnung unter anderem fest, dass Kutscher eine Fahrt nur spät abends und nur »mit höflicher Bescheidenheit« ablehnen durften. »Verletzungen des Anstandes« und Grobheiten gegenüber den Fahr-gästen wurden von nun an unter Strafe gestellt.

Nicht nur das Beschimpfen von Passanten, auch das gemütliche Parken zweier Kutschen nebeneinander zum Zwecke einer Unterhaltung mit Kutscherkollegen wurde verboten. Die erste Geschwindigkeitsbegrenzung wurde ausgesprochen und »Trott« anstatt Galopp als Höchstgeschwindigkeit vorgeschrieben. Stehen durften die Kutscher nur noch an 16 ausgewiesenen Haltestellen, auch die Verkehrszeiten der Droschkenkutscher wurden begrenzt.

Etwa 50 Jahre später machten die ersten Radfahrer auf Berlins Straßen den Kutschern das Leben noch etwas schwerer. Immer öfter kreuzten sie unverhofft ihre Wege und machten die Pferde scheu. Radelten die Herrschaften auf ihren Eisenrössern anfangs eher zum Vergnügen durch Wiesen und Wälder, bestenfalls zu den Rummelplätzen und Gartenlokalen an der Hasenheide oder am Kreuzberg, so setzten sie sich jetzt aufs Rad, um zur Arbeit zu fahren. Der Widerstand gegen die neuen Verkehrsteilnehmer war groß. 1892 musste eine Polizeiverordnung ausdrücklich verbieten, »Hunde auf Radfahrer zu hetzen« oder »Gegenstände in die Speichen« ihrer Räder zu werfen.

Anfang der 90er-Jahre des 19. Jahrhunderts wurde dann auf dem Blücherplatz sogar die erste Frau auf einem Fahrrad gesichtet! Es dauerte nicht lange, da gründete sich der erste Damenfahrradclub Berlins, woraufhin sich immer mehr Verkehrsteilnehmer in wehenden Röcken aufs Rad schwangen, um den Herren die Vorherrschaft auf den Straßen zu rauben.

Nicht nur Kutscher und die Herrschaften auf dem Trottoir nahmen an den pedalierenden Frauen Anstoß, sogar die intellektuelle Elite erregte sich über die Unsitte. Die Deutsche Medizinische Wochenschrift kam zu dem Schluss, es könne »keinem Zweifel unterliegen, dass (…) kaum eine Gelegenheit zu vielfacher und unauffälliger Masturbation besser geeignet« sei als das Radfahren, welches »die sexuelle Libido bei manchen Frauen ins Unermessliche steigen« lasse.

Was immer auch der Grund für die Freude am Pedalieren gewesen sein mag: Mehr und mehr Frauen, Männer und Kinder stiegen aufs Rad.Mitte der 90er-Jahre sollen bereits 30.000 von ihnen unterwegs gewesen sein. Im Februar 1896 wurden deshalb Berlins Straßen, auf denen zu allem Unglück nun auch noch die ersten Automobile qualmten, offiziell für die Radfahrer freigegeben. Zwei erste, knapp fünfzig Zentimeter breite Radwege wurden am Straßenrand markiert. Schmalspurradwege auf hartem Kopfsteinpflaster.

Angesichts der Invasion von Radfahrern forderte der Abgeordnete Dr. Schwalbe in der Stadtverordnetenversammlung am 29. Oktober 1896, dass Radfahrer ebenso wie die Droschkenkutscher künftig »eine erkennbare Nummer an der Vorder- und Rückseite des Rades« anbringen sollten, »die abends beleuchtet sein müsse.«

Um sicherzustellen, dass der ganze Aufwand gerechtfertigt war, wurde eine Untersuchung angeordnet. Elf Monate war die Polizei damit beschäftigt, jeden Zusammenstoß zu protokollieren. Die vermeintlich erste Unfallstatistik Berlins führte 551 Zusammenstöße von Radfahrern mit anderen Verkehrsteilnehmern zutage. 382 Mal hatten die Radler einen Fußgänger getroffen, 169 Mal kollidierten sie mit einem Fuhrwerk. Meist nur leicht verletzt wurden bei diesen Unfällen insgesamt 276 Personen, Todesfälle gab es keine zu beklagen. Die Anzahl von Unfallflüchtigen, wie sie durch Nummernschilder hätten vermieden werden können, war unerheblich, »nur 22 Radfahrern sei es gelungen, durch Davonfahren zu entkommen.« Im gleichen Zeitraum hatte es dagegen 2671 Unfälle unter den ca. 10.000 elektrischen Straßenbahnen, Pferdeomnibussen, Droschken und Fußgängern gegeben. Dabei waren 14 Todesfälle und viele Verletzte zu beklagen.

Angesichts dieser Zahlen war es verständlich, wenn sich die Stadtväter 1896 gegen das Nummernschild entschieden. 1994 - beinahe 100 Jahre später! - entschied sich auch der Berliner Verkehrssenator Lummer gegen die Registrierung von angeblich »2 Millionen Berliner Fahrrädern«. Heute sind es geschätzte 3 Millionen, und es gibt bereits 1500 Kilometer Radweg in der Stadt, darunter 200 Kilometer so genannter Radschnellwege. Die Zahl der Kollisionen wird steigen.

Die Hoffnung der einstigen Stadtväter, dass man sich mit der Zeit an die Räder gewöhnen würde, und dass »die Unzuträglichkeiten mehr und mehr verschwinden werden«, hat sich nicht erfüllt. Vielleicht sollte man die über hundertjährige Idee des Stadtverordneten Schwalbe noch einmal bedenken. Die paradiesischen Zustände aus jenen Jahren, in denen die Straße »von jedermann zum Gehen, Reiten, Fahren und Viehtreiben benutzt werden« durfte, gehören der Vergangenheit an. •

zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg