Kreuzberger Chronik
Oktober 2022 - Ausgabe 243

Reportagen, Gespräche, Interviews

Parallelgeschäfte


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von Michael Unfried

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Einst verteidigten Geschäftsbesitzer noch hartnäckig ihre Reviere. Rockerbanden patroulierten, Schlägertypen kassierten. Heute existieren alle friedlich nebeneinander.

Konkurrenz belebt das Geschäft! Oder doch eher den Puls? Das fragt sich die Wirtschaftsbloggerin Carola Heine und greift damit ein altes Thema auf. Schon auf den antiken Märkten entlang staubiger Handelswege gesellten sich Töpfer zu Töpfern, gab es Straßenzüge mit Schuhmachern, Tuchhändlern, Kupferschmieden. Noch heute findet man in den Markthallen Südeuropas Fleischer neben Fleischer und fünf Gewürzhändler nebeneinander; Straßen tragen die Namen der Handwerker, die sich einst an ihnen niederließen: Seiler, Zimmerer, Hutmacher.

Auch die Kreuzberger Bergmannstraße wäre von den Immobilienhändlern und den Gastronomen des 21. Jahrhunderts nie entdeckt und vermarktet worden, wäre sie nicht bereits in den 80er-Jahren über die Mauer hinaus bekannt gewesen. Selbst in Wien, Zürich und London sprach man von der Straße, in der sich Trödler an Trödler reihte. Und alle verdienten an der wachsenden Popularität. Die Bergmannstraße wurde für die Reisebranche zu einer attraktiven »Destination« und ist es noch immer - auch wenn heute keine Trödler, sondern nur noch Restaurants im Reiseführer stehen.

Es scheint von Vorteil zu sein, sich zusammen zu tun. Auch wenn das nicht immer leicht ist, denn enge und langjährige Beziehungen, egal, ob privater oder geschäftlicher Natur, werden mitunter auf harte Proben gestellt. Und dann belebt die Symbiose doch eher den Puls als das Geschäft.

So erging es auch Tiago Pinto Pais, der seit 1993 seine portugiesischen Landsleute mit einer Zeitschrift in ihrer Landessprache versorgt. 2014 erweiterte er sein Angebot für portugiesische Berliner und stieg bei einem sympathischen Landsmann ein, der portugiesische Weine importierte: Joao Dias. Der hatte in der Kreuzberger Heimstraße ein Weingeschäft namens Bom eröffnet. Doch das geschäftspartnerschaftliche Glück der beiden Männer währte nicht lange, der Senior stieg bald ganz aus dem Bom aus. »Wir kommen aus zwei verschiedenen Generation und haben eben auch verschiedene Geschäftsphilosophien«, sagt Joao Dias. »Tiago hatte Lust auf junge Leute und Musik, und ich hätte es gerne etwas ruhiger gehabt.« Also kaufte Tiago Pais dem alternden Kompagnon auch noch die zweite Hälfte des Ladens ab.

Bis dahin war der Puls des Weinhändlers Pais noch normal. Aber als sein Ex-Kompagnon eine Straße weiter einen eigenen Laden aufmachte, da beschlich ihn »ein ungutes Gefühl.« Zumal er den älteren Herren darauf angesprochen hatte, diese 500-Meter-Klausel im Vertrag einzubauen: Ein ungeschriebenes Gesetz unter Gastronomen, das jedem Gründergeist nahe legt, kein gleichartiges Geschäft in unmittelbarer Nähe eines anderen zu eröffnen. Als Tiago Pais sah, wie sein Kollege den Laden in der Friesenstraße mit portugiesischen Weinkisten vollstapeln ließ und die drei fetten Buchstaben Bom darüber schrieb, ärgerte er sich.

»Inzwischen bin ich froh, dass alles so gekommen ist«, sagt Tiago Pais. »Joao mochte keine Musik und Joao wollte eine richtige Küche. Das hat er jetzt beides in der Friesenstraße.« Tiago Pais dagegen hat sich voll und ganz auf sein Wein- und Sektsortiment konzentriert. Es gibt Abende, da ist der Laden voller junger gutgelaunter Leute. »Das einzige, was mich nervt, ist, dass immer noch Leute kommen und nach dem Bom fragen, weil sie dort vor ein paar Jahren irgendwas gegessen haben, was ich natürlich nicht mehr habe. Aber sonst ist eigentlich alles OK.«

Wenige Meter von der Heimstraße entfernt in der Bergmannstraße kommt es zu ähnlichen Verwechslungen. Da glauben die Gäste auch immer, im Austria einen Tisch reserviert zu haben. Doch im Austria ist kein Tisch mehr frei, weil sie nicht im »Austria«, sondern nebenan im Felix-Austria reserviert haben. Auf den Internetseiten sind die beiden Lokale mit identischem Angebot und ähnlichem Namen kaum auseinander zu halten.

Die Geschichte der österreichischen Lokale ähnelt der von Joao Dias und Tiago Pais: Irgendwann beschloss einer der Kellner des Austria exakt 4 Hausnummern und keine 500 Meter weiter ein eigenes Lokal zu eröffnen. Bereits 1993 hatte Bodo Blum – übrigens kein österreichischer Koch, sondern ein Berliner Schriftsetzer, der sich über ständig neue computergesteuerte Maschinen ärgerte und deshalb seinen Job an den Nagel hängte, um Gastronom zu werden - »mitten im Multikultibezirk« Kreuzberg ein österreichisches Schnitzellokal eröffnet. Das Restaurant mit den Hirschgeweihen an der Wand, den panierten Fleischfladen, den dampfenden Knödeln und den frackierten Kellnern, die wie Hans Moser buckelten und von »Knöderln, Eierschwammerln, Paradeisern oder Marillen« sprachen, war eine angenehme Abwechslung auf der mediterran-asiatisch geprägten Kreuzberger Speisekarte. Der Laden lief. Das blieb dem Personal nicht verborgen.

Zuerst hatte der unternehmungslustige Kellner noch daran gedacht, ein Café zu eröffnen, aber irgendwie geriet es dann doch zu einem österreichischen Restaurant. Es gab einen günstigen Mittagstisch und jeden Freitag Fisch, weshalb Filmemacher Gerd Conrad und seine Frau nur noch »die Fischis« hießen, weil sie keinen Freitag ausließen. »Es war nett da und ein bisschen günstiger als nebenan. Nur wenn wir vornehme Gäste zu Besuch hatten, dann führten wir die zum Schnitzelessen ins alte Austria mit den buckelnden Kellnern und den Tischdecken«, erinnert sich Conrad.

Der Parallellauf der beiden Österreicher führte fortan zu Irritationen unter der Kundschaft, wie ein Kellner zu erzählen weiß. »Die verabreden sich beim Österreicher, und der eine sitzt dann im Austria und der andere im Felix Austria. Nach einer halben Stunde klingelt das Telefon: Wo bleibst Du denn? Ich warte schon seit einer halben Stunde!« – Nach derartigen Abstürzen des Stimmungsbarometers schmeckt auch das beste Schnitzel nicht mehr.

Selbst die Post irrt mitunter noch zwischen dem einen und dem anderen Österreicher hin und her. »Als ich dann rüber bin und dem Ex-Kellner freundlicherweise den gelben Brief überbringe, der hier gelandet war, da kam das irgendwie nicht so gut an bei ihm! Da fing der an herumzumeckern…« erinnert sich Kevin. »Keine Ahnung warum, aber irgendwas muss da mal vorgefallen sein zwischen den Chefs der beiden Lokale.« Kevin ist der dienstälteste Kellner, doch als er in der Bergmannstraße zu kellnern begann, war das alles »schon Schnee von gestern«. Keiner aus der neuen Besatzung kann sich erinnern, auch die Chefetage ist längst ausgewechselt. Die Fischis aber erinnern sich noch ganz gut, dass es da eine Vereinbarung gab zwischen dem Kellner und seinem Chef, der im Grunde nichts dagegen hatte, wenn sich sein Mitarbeiter verselbstständigte. »Mach ruhig was Eigenes auf! Aber keine Schnitzel, OK?« Das war der Deal. Doch der Mensch lebt nicht vom Fisch allein, und irgendwann hingen auch vier Hausnummern weiter die riesigen Schnitzel über den Teller.

Inzwischen leben auch die beiden Österreicher ganz gut miteinander. Vielleicht leben sie sogar voneinander, in einer Art Symbiose. Ein Wiener Schnitzel für die hungrigen Touristen aus China und Schanghai ist in der Bergmannstraße auf jeden Fall garantiert: Wenn es beim einen Österreicher keinen Platz mehr gibt, dann geht man eben zum anderen…

Als Symbiose empfindet vor allem die junge Generation der Gastronomen die Nachbarschaft von Artgenossen. Die Kreuzberger Cocktailbars leben in friedlichster Harmonie. Im Limonadier steht, angeleuchtet wie ein Bühnenstar, eine dickbäuchige Flasche mit einem Jamaika-Rum namens »Wagemut.« Dos Santos, Besitzer der elegant durchgestylten Bar, grinst. Vorangegangene Generationen hätten es womöglich noch als wagemutig empfunden, ausgerechnet in der Nostitzstraße eine Bar zu eröffnen, wo sich doch in der nahen Nachbarschaft bereits die ältereingesessene Galanderbar befindet. »Aber ich freue mich, wenn schon jemand da ist und etwas Ähnliches macht. Vielfalt belebt das Geschäft. Vielleicht gibt es noch Leute, die intuitiv erst mal skeptisch sind und glauben, ihr Revier verteidigen zu müssen, aber das ist dann doch eher so eine Art Reflex.«


Dominik Galander aus der Großbeerenstraße bestätigt das gute nachbarschaftliche Verhältnis: »Die Cocktailszene hält ziemlich gut zusammen. Wir haben ja neben der Bar noch den Spirituosenladen, manchmal kommen die vom Limonadier rüber und kaufen hier ein. Nach Feierabend sitzen unsere Leute sogar drüben bei denen und die von denen bei uns.«

Probleme haben die Barbesitzer untereinander keine. Wenn sie von sich sprechen, sagen sie »wir«, und das klingt, als meinen sie alle Barkeeper dieser Welt. Realistischer als Probleme mit neuen Artgenossen sind Probleme mit den neuen Anwohnern. Den Zugezogenen. Manchmal auch mit den Ureinwohnern. Zum Beispiel denen über der Haifischbar, der ältesten Bar im Viertel, nur wenige hundert Meter von Limonadier und Galanderbar entfernt. »Eigentlich wollten wir die ja gar nicht kaufen«, erinnert sich Galander. »Wir hatten ja schon zwei Bars und den Spirituosenladen. Aber wir haben unsere halbe Kindheit in der Haifischbar verbracht, und weil der Besitzer unbedingt verkaufen wollte und jemanden suchte, der sie im alten Stil weiterführt, haben wir die dann auch noch übernommen. Das war eigentlich pure Romantik von uns.«

Doch mit der romantischen Bar haben sie jetzt ein kleines Problem. Denn die Kreuzberger Sommernächte sind noch immer lang, und es kommt vor, dass die Besitzer der Wohnung über der Bar irgendwann tatsächlich schlafen möchten. Das ist verständlich, das sind nette Leute, aber eben auch ältere Leute, »die haben einen leichten Schlaf. Und das nervt«, sagt Galander. Zumal es sich um Ex-Kollegen handelt, die doch eigentlich wissen müssten, dass man als guter Wirt nicht einfach um zehn Uhr alle Gäste vor die Tür setzten kann.

Vielleicht würde Dominik Galander das Ganze gelassener sehen, wenn es sich bei den alten Kollegen über der Bar nicht ausgerechnet um die Vorbesitzer der Bar mit dem Haifisch auf dem Tresen handeln würde. Aber so ist das eben mit langjährigen Beziehungen, seien sie privat oder rein geschäftlich: Sie führen mitunter zu erhöhtem Pulsschlag.

Der Puls von Tiago Pais allerdings ist jetzt die Ruhe selbst. »Natürlich hatten wir auch in Lissabon Straßen gehabt voller Schuhgeschäfte oder Straßen mit lauter Bars und Weinläden. Das funktioniert. Ich könnte mir das auch ganz gut vorstellen, wenn die Heimstraße zur Weinstraße würde: Italiener, Spanier, Franzosen, Deutsche, Östgerreicher, Portugiesen, einer neben dem anderen.« Und Tische auf der Straße, lauter lachende Menschen an lauen Sommerabenden, und irgendwo spielt einer auf der Gitarre herzerweichende Liebeslieder. Das wäre fast schon wie zuhause in den Straßen von Portugal. Und die Heimstraße wäre bald schon so berühmt und so voll und so teuer wie die Bergmannstraße.




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