Kreuzberger Chronik
Oktober 2022 - Ausgabe 243

Mühlenhaupts Erinnerungen

Sechstagerennen


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von Kurt Mühlenhaupt

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Ich konnte damals die Leute von der CDU nicht leiden. Vielleicht lag das daran, dass ich in einer Arbeitersiedlung groß geworden bin. Dennoch war ich eine öffentliche Person, und ihre Spitzenpolitiker kamen als Kunstfreunde zu mir. Darunter auch der Parteivorsitzende Lorenz. Er war ein Besucher wie jeder andere. Einmal lud er mich zum Sechstagerennen ein. Mich interessierte das nicht. Aber Lorenz sagte zu mir: »Du mußt dort hin! Det ist Berlin!« Morgen ist die letzte Nacht.«

Wir fuhren also in die Deutschlandhalle. Dort saßen wir in der Prominentenloge. Mit Erstaunen sah ich, wie sich Politiker freundschaftlich umarmten, von denen ich im Fernsehen immer sah, wie sie sich angifteten. Als ich mit Lorenz darüber sprach, sagte er: »Mensch, Mühlenhaupt, meinst du, ich weiß nicht, wo du stehst, nach deiner Theorie dürften wir uns doch gar nicht unterhalten.«

Wir wurden unterbrochen, dicht an uns fuhr gerade ein Pulk vorüber. Die bunten Hemden waren nur noch als farbiger Streich zu erkennen. So schnell sie auf uns zurasten, waren sie auch wieder verschwunden. Die letzte Runde wurde eingeläutet. Stimmung kam auf. Die ersten sausten wieder ganz dicht an meiner Nase vorbei. Der Sportpalast-Walzer dröhnte. Wie in alten Zeiten machte einer einen gewaltigen Pfiff, der uns an Krücke erinnerte. Die Fotografen flitzten, blitzten und überschlugen sich. Ich saß mitten im Hexenkessel. Es kam die Stunde, in der es für die Rennfahrer um die Wurst ging. Ich verstand nichts. Das wußten nur die Götter oder die BZ-Leser am nächsten Morgen.

Ja, und dann war die Nacht vorüber. Und der graue Alltag von Kreuzberg hatte mich wieder. •

Entnommen aus Kurt Mühlenhaupts autobiographischem Werk in 11 Bänden erhältlich im Kurt Mühlenhaupt Museum, Fidicinstraße 40


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