Kreuzberger Chronik
Oktober 2022 - Ausgabe 243

Herr D.

Der Herr D. wird belehrt


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von Hans W. Korfmann

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Der Herr D. saß im Café an der Bergmannstraße, neben ihm ein Kreuzberger Ureinwohner mit schulterlangen grauen Haaren und einem zerfledderten Tabakbeutel vor sich auf dem Tisch. Der Sitznachbar sah zu ihm herüber. Er war auf der Suche nach einem Gesprächspartner, doch der Herr D. hatte keine Lust auf Gespräche über Impfvorschriften oder Radfahrer.

Da ertönte ein Schrei. »Hey, Alter, was soll denn das werden?« Ein Altersgenosse des Herrn D. in kurzen Hosen und mit Strohhut hatte sich vor der roten Ampel mit seinem Rad vor einen behelmten Radfahrer der jüngeren Generation gedrängelt. »Alter, du kannst doch nicht einfach vorbeifahren und dich vor meine Nase stellen!« Der Senior stieg ab, ging auf den Radler zu und drohte mit der Faust.

»Und?«, wandte sich der Graue zum Herrn D. »Wenn die jetzt losschlagen, wer ist dann schuld? Der, der gebrüllt hat, oder der, der die Faust hebt? Sie sind wahrscheinlich auf der Seite des Alten?«

»Stimmt!«, gab der Herr D. zu, der immer noch keine Lust hatte, über Verkehrspolitik zu diskutieren. Doch es gab kein Entrinnen:

»Dann ist also der der Angreifer, der provoziert. Nicht der, der zuschlägt.« Der Herr D. wandte ein, dass schon im Sandkasten immer die Frage gestellt worden sei, wer angefangen habe. So ein Streit komme aber nicht plötzlich, der baue sich auf, bis es knallt.

»Und so ist das mit Putin und Selenski auch. Nur, dass die nicht mit Sand werfen, sondern mit Bomben. Und wenn die ihnen dann ausgehen, holt man welche vom Nachbarn. So entstehen Weltkriege.«

Der Herr D. wollte etwas sagen, aber das interessierte nicht. Der Nachbar suchte keinen Redner, er suchte einen Zuhörer:

»Das ist doch alles Wahnsinn. Jetzt wird darüber nachgedacht, ob man Russen die Einreise verweigern soll. Wenn die Politik, egal wo, öffentlich darüber nachdenkt, keine Visa mehr für Russen auszustellen, dann ist das unmoralisch. Was kann denn die russische Bevölkerung dafür? Sie glauben doch nicht, dass die alle für Krieg sind. Die russischen Mütter, die ihre Söhne verlieren, trauern genauso wie die ukrainischen oder syrischen, und genauso wie unsere Mütter 1940. Haben denn unsere Politiker aus unserer Geschichte nichts gelernt? Wenn das so weitergeht, werden wir bald keinen Rachmaninow mehr hören dürfen, keinen Dostojewski mehr lesen, keine russischen Restaurants mehr besuchen. Ich sehe sie schon vor mir, die beschmierten Schaufenster, und wissen Sie, woran mich das erinnert?«

Der Grauhaarige sah den Herrn D. herausfordernd an. Der Nachbar hatte Recht. Der Herr D. war auf seiner Seite. Aber er wollte lieber Zeitung lesen und in aller Ruhe nachdenken, als sich in ein Streitgespräch mit einem kriegerischen Pazifisten verwickeln zu lassen.


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