Kreuzberger Chronik
Oktober 2022 - Ausgabe 243

Geschäfte

Unten Boots, oben Ballkleid


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von Edith Siepmann

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Bienen summen über die Wand, umschwirren einen schwarzen und einen weißen Mann. Sie sitzen sich einander Hände haltend gegenüber - der Schriftzug Cinema über sie gewölbt. Die rätselhafte Fassadenbemalung lässt nicht erahnen, was sich im Inneren verbirgt. Elegante Schaufensterpuppen im Sixties-Style flankieren das Eingangsportal, blicken mit cool-desinteressiertem Gesichtsausdruck auf den Stau vor der Kreuzung am Mehringdamm.

Wer eintritt, taucht in ein wohlsortiertes Sammelsurium von Kleidungsstücken der letzten Jahrzehnte ein. Eine Sinfonie der Farben und Formen, eine textile Kulisse von skurriler Leidenschaft und praktischem Understatement auf Bügeln. Im Entree stehen in Reih und Glied Pumps, Stiefel, Stöckelschuhe, Sneaker. Auf dem Wandregal warten Zylinder neben Melone und Stetson, in der Vitrine Mecki, Blechauto, Manschettenknopf. Dann öffnet sich ein Saal und Kronleuchter erhellen das Deckenoval, die rote Samttapete und die vielen chromblitzenden Kleiderrondells. Kleider machen Leute - also Samt-Vorhang auf für die Kostüme, für die Lust an der Verkleidung!

Vor vielen Jahren wurde hier tatsächlich noch ein schwerer Vorhang zurückgezogen, da war das Cinema ein Kino. Ausgehen und die neuesten Filme sehen, das gehörte dazu an einem Samstagabend in den 20ern in Kreuzberg. 33 Kinos gab es damals im Bezirk, nach dem Krieg kamen noch einmal 17 dazu. 1949 wurde auch das kleine Thalia-Theater am Mehringdamm Nr. 41 zu den Prisma-Lichtspielen umgebaut. Bis 1977 liefen hier Filme wie »12 Uhr Mittags«, »Der Hauptmann von Köpenick«, »Ben Hur« oder »Der Untertan.«



Die Vergangenheit liegt noch in der Luft, der ovale goldgelbe Deckenstuck verleiht dem niedrigen Saal noch heute Eleganz. Der rote Samtvorhang hängt vor einer weißen Wand. Die Protagonisten und Mitspieler sind jetzt allerdings die jungen und alten Menschen, die ein besonderes oder auch ein alltägliches Outfit suchen. Überall hängen gut sortierte und gebrauchte Kleidungsstücke, ebenso wie neue Unikate aus regionalen und Berliner Manufakturen. Im Hintergrund grooved Reggae, piepst Pop und plätschert Ambient. Eine Frau in besten Jahren, die nach einer passenden Jeans sucht, summt die Songs aus alten Hippie-Zeiten leise mit: »Those were the days my friend.…«.

So wie die Musik, so kommen auch die Textilien aus unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlichen Orten. Da hängen Kittelschürzen und Ballkleider, Bauchtanzoberteile und Badeanzüge mit Atombusen aus der Marilyn-Zeit. Zwei Däninnen haben den Laden entdeckt und suchen nach College-Jacken. Die sind nicht billig, aber eben »mega angesagt«. Also wandern sie in den Einkaufskorb.

Die Bergmannstraße war einmal bekannt für ihre vielen Trödelläden. Man konnte ganz nachhaltig Hausrat aus der Gründerzeit erstehen und nebenbei Raritäten entdecken. Dann verwandelten sich die eigentümlichen Erdgeschossläden und verwinkelten Souterrain-Keller einer nach dem anderen in reinliche Restaurants und Cafés. Doch die Spur der Second-Hand-Kleiderläden ist geblieben. Da liegen nah beieinander Oxfam, das imposant vollgestopfte Picknweight im Hinterhof und Humana mit dem menschenfreundlichen Namen und den hohen Gewinnen. Checkpoint Cinema am Mehringdamm ist allerdings noch ein echter Familienbetrieb, sozusagen selbst Vintage seit fast 30 Jahren. Mittlerweile verkaufen Birgit, Chabat und David ihre Mode auch übers Internet, »aber es sind die Stammkunden, die uns über Wasser halten! Das haben wir in der Corona-Zeit gemerkt, als keine Touristen in der Stadt waren. Wir haben nur Dank der Stammkunden überlebt!«. Denn neben Exklusivem für Däninnen gibt es viele günstige Kleider, echte Schnäppchen, manchmal nagelneue Jacken oder Pullover für zwei oder vier Euro. Und Bücher und CDs dazu geschenkt.

Teilen und Wiederverwenden sind die Zauberwörter des zeitgemäßen Konsums. Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Textilindustrie einer der größten Umweltverschmutzer ist. Menschen in den Fabriken werden vergiftet, Unmengen Wasser verbraucht und Müllberge produziert, wobei mehr Treibhausgase entstehen als durch Flugverkehr und Schifffahrt zusammen. Jedes wiederverwendete Kleid bringt uns weg von Klimawandel und Umweltverschmutzung.

Und wenn das dazu noch Spaß macht - und wir mit Federboa und Punkerperücke und Anzugjacke und Glitzerbluse wie Filmstars aussehen – im alten Cinema am Mehringdamm– dann wird alles gut! •








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