Oktober 2022 - Ausgabe 243
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Unten Boots, oben Ballkleid von Edith Siepmann |
Wer eintritt, taucht in ein wohlsortiertes Sammelsurium von Kleidungsstücken der letzten Jahrzehnte ein. Eine Sinfonie der Farben und Formen, eine textile Kulisse von skurriler Leidenschaft und praktischem Understatement auf Bügeln. Im Entree stehen in Reih und Glied Pumps, Stiefel, Stöckelschuhe, Sneaker. Auf dem Wandregal warten Zylinder neben Melone und Stetson, in der Vitrine Mecki, Blechauto, Manschettenknopf. Dann öffnet sich ein Saal und Kronleuchter erhellen das Deckenoval, die rote Samttapete und die vielen chromblitzenden Kleiderrondells. Kleider machen Leute - also Samt-Vorhang auf für die Kostüme, für die Lust an der Verkleidung! Vor vielen Jahren wurde hier tatsächlich noch ein schwerer Vorhang zurückgezogen, da war das Cinema ein Kino. Ausgehen und die neuesten Filme sehen, das gehörte dazu an einem Samstagabend in den 20ern in Kreuzberg. 33 Kinos gab es damals im Bezirk, nach dem Krieg kamen noch einmal 17 dazu. 1949 wurde auch das kleine Thalia-Theater am Mehringdamm Nr. 41 zu den Prisma-Lichtspielen umgebaut. Bis 1977 liefen hier Filme wie »12 Uhr Mittags«, »Der Hauptmann von Köpenick«, »Ben Hur« oder »Der Untertan.« So wie die Musik, so kommen auch die Textilien aus unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlichen Orten. Da hängen Kittelschürzen und Ballkleider, Bauchtanzoberteile und Badeanzüge mit Atombusen aus der Marilyn-Zeit. Zwei Däninnen haben den Laden entdeckt und suchen nach College-Jacken. Die sind nicht billig, aber eben »mega angesagt«. Also wandern sie in den Einkaufskorb. Teilen und Wiederverwenden sind die Zauberwörter des zeitgemäßen Konsums. Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Textilindustrie einer der größten Umweltverschmutzer ist. Menschen in den Fabriken werden vergiftet, Unmengen Wasser verbraucht und Müllberge produziert, wobei mehr Treibhausgase entstehen als durch Flugverkehr und Schifffahrt zusammen. Jedes wiederverwendete Kleid bringt uns weg von Klimawandel und Umweltverschmutzung. Und wenn das dazu noch Spaß macht - und wir mit Federboa und Punkerperücke und Anzugjacke und Glitzerbluse wie Filmstars aussehen – im alten Cinema am Mehringdamm– dann wird alles gut! • |