Kreuzberger Chronik
November 2022 - Ausgabe 244

Herr D.

Der Herr D. sucht ein Café


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von Hans W. Korfmann

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Der Herr D. wusste nicht wohin. Es war Sonntag, sieben Uhrmorgens, er hatte kein Brot im Haus und keinen Kaffee under wollte frühstücken. Aber es gab ja noch die Bäckereienmit Tischen auf der Straße, die schon um sechs öffneten, und auch noch Cafés, die nicht auf spätaufstehende Touristen warteten,sondern Kaffee für ihre Nachbarn machten. Aber dem Herrn D. wollte keines in der Nähe einfallen.

Im Geiste durchkämmte er sämtliche Straßen nach einem Frühstücksort, in dem er in Ruhe in einer Zeitung blättern oder den Spatzenauf den Stuhllehnen zuschauen oder seinen Gedanken nachhängen konnte, ohne die Konversationen seiner Mitbürger am Nebentisch mitverfolgen zu müssen. Er wollte schon aufgeben, da kam ihm die rettende Idee: Das kleine Café in der Körtestraße! Das mit den alten Gartenstühlen, den Schrippen für 20 Cent und den adretten Pastetchen. Nicht vorne am Südstern in bester Lage, wo der Biobäcker seine Filiale hatte und woder Kaffee drei Euro kostete, sondern hinter der Buchhandlung Wilde, fast schon an der schmuddeligen Urbanstraße, wo Kreuzberg noch einbisschen wie Kreuzberg war, wo der Kaffee noch 1,60 kostete und wo die Morgensonne schon früh über Dächersimse und Baumkronenstieg.

Alles in diesem Café war wunderbar, weshalb war es ihm nichtgleich eingefallen? Gut gelaunt spazierte er los. »Könnten Sie mir bitte einen Kaffee machen?«, fragte der Herr D.,kaum hatte er die Bäckerei Mert betreten.

»Selbstverständlich!«, antwortete die Frau höflich.

»Und ein Croissant hätte ich auch gern!«, sagte der Herr D.

»Aber selbstverständlich!«, antwortete die Türkin.

Der Herr D. legte zwei Münzen auf den Tresen.»Wann machen Sie eigentlich auf?«

Die Frau hatte keinen Sinn für viele Worte: »Um vier!«

»Sie meinen, Sie fangen um vier Uhr an zu backen?«»Nein!«, sagte sie, etwas zu streng für den Geschmack des HerrnD., »Ab vier Uhr ist die Tür offen! Und ab vier gibt es Kaffee.«

Der Herr D. verzichtete auf weitere Fragen, griff nach der SüddeutschenZeitung, suchte sich einen gemütlichen Platz und las inaller Ruhe und ebenso ungestört durch die Gespräche der türkischen Nachbarschaft in ihrer Muttersprache wie durch die Nachbarn, die inder BZ und der Morgenpost blätterten.

Nach dem Frühstück legte er die Zeitung zusammen und schobsie zurück in den Ständer, da las er das Schildchen: »Zum Verkauf«. Erzog das Blatt noch einmal heraus, faltete es akkurat zusammen, sodasses aussah wie neu, und schob es zurück in den Ständer. Als erhinausging, grinste ihm die strenge Bäckerin freundlich zu. •

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