November 2022 - Ausgabe 244
Geschäfte
Der Kiezschrauber von Erwin Tichatschek |
Es ist die klassische Idylle: Zwölf Uhr mittags, fünf Männer sitzen in ihren ölverschmierten Arbeitsklamotten zwischen Schraubstöcken, Schlüsseln, Autoreifen und barbusigen Schönheiten auf Pirelli-Kalendern am Tisch und rauchen, beißen in Brote, trinken Kaffee, machen Witze oder erzählen sich alte Geschichten, die jeder schon kennt. Zum Beispiel die von Abdul, der vergessen hatte, das Ventil der Altölpumpe zu schließen, sodass eine schwarze Fontäne an die Decke schoss und den weißen 123er Mercedes Coupé vom Herrn Niedermeyer komplett in schmieriges Schwarz kleidete. »Dass einer beim Ölwechsel vergisst, die Schraube unten wieder reinzudrehen und dann oben reingießt und reingießt und sich wundert, dass dieser verdammte Öltank immer noch nicht voll ist, weil unten alles wieder rausläuft: Das passiert jedem mal. Aber diese sprudelnde Ölquelle war schon was Besonderes.« Nach der Pause macht sich jeder wieder an die Arbeit. Einer steigt in die Grube, einer montiert Reifen, einer beugt sich mit einer Taschenlampe über eine offene Kühlerhaube. »Die Auftragsbücher sind voll«, sagt Sawallisch. Fünf Leute schrauben jetzt für den Kiezschrauber, sogar der Vater, gelernter Lkw-Schlosser, hilft mit im Betrieb des Sohnes. Ebenso wie sein Kumpel aus der Lehrzeit. Und Abdul, der aus Afghanistan geflüchtet ist und bei ihm die Ausbildung gemacht hat. Jetzt hat er einen festen Platz am Mittagstisch in der Ecke. David Sawallisch schaut aus dem vergitterten Hinterhoffenster zum Nachbargrundstück, Jahnstraße 15. »Da drüben, wo jetzt dieses schmucke weiße Mietshaus steht, war früher MM Motors.« Da hat er gelernt und seinen Meister gemacht, da wurde er Filialleiter und hat am Ende die Firma von Merten Mordhorst übernommen. Doch gerade mal zwei Jahre waren vergangen, da musste er wieder raus. Das Haus wurde verkauft, die Werkstatt abgerissen. Die Schrauber zwei Häuser weiter, in der Urbanstraße 65, ereilte das gleiche Schicksal: »Das Haus gehört jetzt Zalando.« Der Kiezschrauber zählt auf, wer noch da ist: »Baricevic, Eichler, Gulyas, Bayraktar… - das sind lauter Schrauber.« In der Urbanstraße drehte sich offensichtlich schon immer alles um Motoren. Selbst der Puff mit der silbrigen, raumschiffartigen Wandverkleidung nannte sich Triebwerk. David Sawallisch, der Kiezschrauber, hatte Glück. Als sich die Bagger dem Haus in der Jahnstraße näherten, wurde gleich nebenan in der Urbanstraße 64 eine Werkstatt frei. Doch es dauerte ein paar Tage, bis der Laden richtig lief, denn Kiezschrauber Sawallisch war nicht sechzig, sondern erst fünfundzwanzig. »Die Leute glauben ja, ein Meister muss alt sein. «Da sei auch was dran. Doch wer ein neues Auto habe, brauche auch neue Schrauber. Schrauber, die etwas von Software verstehen. »Dafür haben wir Pascal. Einer von uns beiden muss immer da sein.« Pascal ist ein Spezialist für Hochvoltsysteme. Sojemanden braucht man bei den rollenden Computern heutzutage. Heute »wollen ja alle grün sein, aber trotzdem die volle Leistung. Da fliegt einem irgendwann natürlich der Turbo um die Ohren. Aber insgesamt sind die Dinger schon ganz haltbar. Einige von denen laufen immer noch mit dem ersten Akku.« Natürlich hatte er mal ein Motorrad, eine 125er-Yamaha. Wie sonst hätte er von Schulzendorf wegkommen sollen. »Aber die hat mich nie im Stich gelassen. Die hat mich brav jeden Morgen von Schulzendorf zur Jahnstraße in die Lehre gebracht, zehn Jahre lang. Und als ich die Lehre beendet hatte, blieb sie einfach stehen!« Die Leidenschaft für das Schrauben entwickelte er beim Arbeiten. Der Meister aus der Jahnstraße war Spezialist für die schaukelnden Sofas aus Frankreich. Aus der ganzen Stadt kamen die Citroen DS vorgerollt, wenn die Hydraulik wieder mal versagte. Noch heute kriecht der Lehrling von damals für die Stammkunden unter die Oldtimer. Obwohl das »zeitaufwendig« ist und sich kaum lohnt. Da wird wohl doch eine Portion Leidenschaft im Spiel sein. Sonst hätte Sawallisch ja auch Buchhalter werden können. Er ist schnell zum Profi geworden. Er weiß, was passiert ist, wenn es beim Lösen einer Schraube erst sehr schwer und plötzlich ganz leicht geht. Die männliche Kundschaft schwärmt: »Knaller Jungs, super Arbeit, faire Preise, Schrauber durch und durch!!!! Nie wieder eine andere Werkstatt...« Auch die weibliche Anica kann die Jungs nur »uneingeschränkt weiterempfehlen!« Sie haben hier gearbeitet wie die Verrückten, bis die Auftragsbücher für sechs Monate voll waren. Aber irgendwann haben sie dann einen Gang runtergeschaltet. »Die Stimmung kippte. Wir waren hier alle schon kurz vorm Burnout. Jetzt sitzen wir auch mal eine Stunde einfach nur rum und erzählen uns was von den Öl-fontänen, die den Mercedes vom Herrn Niedermeyer vollspritzen.« • > |